Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr: "Mach dich dazu frei von allen Erinnerungen, Vorstellungen und Eindrücken, die bisher deine Malweise bestimmt haben, denn die entstammen allesamt dem Gemüt. Also, nichts äußerlich Sichtbares und nichts Gefühlsmäßiges mehr darstellen, sondern nur noch Abstraktes."
"Meinst du abstrakte Begriffe wie Dynamik, Freude und derartiges?"
"No, Lukas, nicht mal das, nichts, was dir geläufig ist. Denn die Seele spricht eine gänzlich andere, eine sphärische Sprache, und was sie dir eingibt, das transferiere auf deinen Malkarton. Doch stets bevor du damit beginnst, musst du dich ausreichend darauf einstimmen."
Lucia fragte leise: "Mit einer Selbstversenkung? Vor der Staffelei?"
Er nickte bestätigend. Dann erkundigte er sich, ob sie ihre neue Aufgabe soweit verstanden habe.
"Schon", antwortete sie, korrigierte sich aber sogleich: "No, eigentlich no."
Dennoch erhob er sich, und sie blickte mit hundert Fragen im Kopf zu ihm hoch, worauf er nur sagte: "Versuch's einfach, Lukas, dann sehen wir weiter."
Noch ein aufmunterndes Zunicken und er entfernte sich wieder von ihr, ließ sie verlassen, verloren, verzagt auf ihrem Hocker zurück.
Was soll sie jetzt tun? Wie soll sie diese Aufgabe angehen? Das beginnt ja bereits beim Auffüllen der Palette, welche Farben nimmt man dazu? Auch zog sie in Erwägung, Leonardo wolle damit Hellsichtigkeit bei ihr erwecken, auf dass sie, ebenso wie er, die menschlichen Feinkörper in Form und Farbe vor ihr inneres Auge bekomme, die Äther- Astral- und Mentalkörper, von denen er mitunter sprach. Soll das der Zweck dieser Übungen sein? Fragen über Fragen, über die sie lange nachsann.
Bis Bernardino zu ihr trat und sie mit seiner ruhigen, tiefen Stimme ansprach: "Soviel ich mitbekommen habe, hat dir der Maestro eine anspruchsvolle Übung aufgegeben." Sie seufzte nur, worauf er ihr zuredete: "Demnach schätzt er dein Talent hoch ein, Lukas, so musst du das auch sehen, denn solche Übungen sind weiß Gott nicht üblich. Vertraue unserem Maestro."
Sie seufzte abermals, bevor sie herausbrachte: "Tu ich ja. Aber heute wage ich mich noch nicht an diese Aufgabe, erst morgen, frühestens morgen."
"Verständlich", stimmte er ihr zu.
Eine Nacht über ein Problem schlafen wirke meist Wunder, war Alphonses Lebensweisheit, die sich für Lucia bereits mehrfach bewährt hatte. So auch heute. Bereits nachdem sie am nächsten Morgen in ihrer Wohnung eine Selbstversenkung beendet hatte, war ihr klar, dass mit der neuen Malaufgabe keine Hellsichtigkeit in ihr erwachen soll, vielmehr tief verborgene Seelenkraft. Und gleich drauf wusste sie intuitiv, welche Farben dazu auf ihre Palette gehören, die Primärfarben rot, gelb, blau und dazu eine Portion weiß.
Dann saß sie, neben sich die gefüllte Palette, vor ihrer Staffelei, auf die sie einen neuen Malkarton zurechtgestellt hatte.
Zunächst begann sie eine Selbstbesinnung. Die aber nicht gelingen konnte, da sie zu aufgeregt war, sie fand nicht die notwendige Ruhe, so sehr sie darauf wartete. Deshalb öffnete sie wieder die Augen, um mit dem Malen zu beginnen. - Aber wie? Sie wartete wiederum, diesmal auf eine Eingebung oder vielleicht ein von innen herrührendes Lenken ihres rechten Armes. Doch nichts geschah. Sie blieb weiterhin unbeweglich sitzen, eine ganze Weile. Dann verlor sie sich aus der Konzentration, ihre Gedanken schweiften ab, und als sie sich dessen bewusst wurde, holte sie sich zurück und begann eine neue Versenkung. Auch die gelang nicht. Verärgert darüber erhob sie sich und verließ ihren Malplatz.
Da sich aber Leonardo, Marco und Antonello im Atelier befanden, musste sie einen Vorwand für ihre Unterbrechung finden, schritt deshalb reihum zu den Künstlern, entdeckte, dass ihre Pinsel gereinigt werden könnten und begann sogleich damit. Nachdem diese Arbeit erledigt war, trat sie zu Leonardo. Er malte in seiner tief konzentrierten Art, an einem neuen Frauenporträt, und an der stolzen Kopfhaltung der Dame glaubte Lucia, sie von dem Pfingstfest her zu erkennen - die Nichte des Herzogs? Wer auch immer, Leonardo benötigte nie ein Modell, er malte, ebenso wie bisher Lucia, aus dem Gedächtnis und das in meditativer Haltung, die nun auch sie erlernen soll. Leonardo beherrschte sie so perfekt wie kein zweiter Künstler, er war die Konzentration selbst, und man sah förmlich, wie die vergeistigte Kraft aus seinen Händen strömte und sich auf das Gemälde übertrug. Gefesselt wie jeder, der ihm beim
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