Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
regelrecht aufraffen mussten, um den Abend zu beenden. Auf dem Weg zum Palazzo stimmte Leonardo dann mit seinem vollen Bariton ein Abendlied an, und Lucia sang mit ihrem herunter gedrückten Mezzosopran die zweite Stimme dazu.
Im Treppenhaus hatten sie das Lied beendet, worauf Carlo scheinbar rätselnd den Kopf wiegte: "Ich weiß nicht, ich weiß nicht, mir scheint, Bellesigni heißt doch schöne Sänger."
Seit Lucias Bemühungen, ihr Lukas-Wesen mit männlicher Kameradschaft anzureichern, hatte sich ihr Umgang mit ihren Mitmenschen zunehmend angenehmer gestaltet. Das hatte sich besonders deutlich bei den Künstlerbesuchen gezeigt, die jetzt eine Woche zurücklagen, sie war ihnen sowohl bei der Begrüßung wie auch beim Verabschieden zwanglos gegenübergetreten.
Auch das Verhältnis zwischen Leonardo und ihr war dadurch immer ungezwungener geworden, von Lucias Seite her sogar mehr als von seiner. Denn in einem benahm sich Leonardo seltsam, zwar bekundete er Lucia bei jeder Gelegenheit seine Zuneigung, hielt jedoch äußerlich stets einen deutlichen Abstand zu ihr ein, indem er nie näher als auf zwei Schritt zu ihr herantrat, jegliche Berührung vermied und sich bei Tisch nie an ihre Seite setzte. Insofern lag noch immer leichte Spannung zwischen ihnen, zumal Lucia dieses Benehmen mitunter nahezu beleidigend fand. Andererseits war sie ihm dankbar dafür, denn obzwar ihr Herz in seiner Gegenwart jetzt stets ruhig blieb, ahnte sie, dass es durch eine vertrauliche oder gar zärtliche Geste von ihm augenblicklich neu entflammen würde.
Überdies war in der Bottega nach den Künstlerbesuchen schnell wieder der Alltag eingezogen. Bernardino und Giovanni betätigten sich zwar noch immer stundenweise mit den anderen im Freilichtatelier, hatten jedoch ihre Freude am Malen zurück gewonnen und saßen ebenso häufig an ihren Staffeleien. Dann schaute Lucia ihnen bisweilen zu und beneidete sie um ihr Können, da sie bei ihren Malübungen keinerlei Fortschritte erzielte. Ihre Bilder wurden nach wie vor zu ungestüm, keine Maßung, kein ruhender Pol darin, nur knallige Farben und ungeordnete Linienführung. Wären dem jungen Michelangelo diese Werke vor Augen gekommen, hätte er wohl nicht mehr von Zartheit gesprochen. Doch Leonardo, der ebenso wie die anderen hiesigen Künstler inzwischen ihre neue Malweise kannte, hatte ihr letzthin im Beisein aller Mut zugeredet: "Solch eine emotionale Protestphase habe ich als Garzone ebenfalls durchstehen müssen. Dabei entlädt sich das Gemüt mit all seinen angestauten Gefühlen. Aber unwillkürlich sucht man nach seinem ureigenen Stil, und das erfordert Zeit und Geduld, Lukas. Deshalb darf dich dabei niemand beeinflussen, und du selbst darfst dich keinesfalls bremsen, sondern einfach die Hand das ausführen lassen, was ihr das Malerherz ihr eingibt. Nur so entfaltet sich intuitives, also schöpferisches Können."
Diese Aussicht hatte Lucia wieder Hoffnung verliehen, und es berührte sie nicht mehr allzu schmerzlich, dass sie einen bemalten Karton nach dem anderen zum Abfall werfen musste.
Sie benutzte ausschließlich Temperafarbe, einmal, weil sie weit billiger als Ölfarbe war und zum zweiten, weil sie innerhalb weniger Stunden trocknete, was ihrer flotten Malweise entgegen kam. Momentan porträtierte sie aus dem Gedächtnis Leonardo. Sie vermeinte, sich das leisten zu können, da man ihn auf dem Bild ohnehin nicht wieder erkenne. Doch sie hatte sich getäuscht, denn unerwartet wurde jetzt hinter ihr Leonardos Stimme laut: "Was machst du da?!"
Sie fuhr zusammen, und im gleichen Moment nahm er den Malkarton von der Staffelei und zerriss ihn mit seinen kräftigen Händen, wobei er aufbegehrte: "No, no, no, alles, nur das nicht!"
Lucia wich das Blut aus dem Kopf und Giovanni, Marco und Salai blickten erschreckt zu ihnen hin. Das brachte Leonardo zur Besinnung, weshalb er seinen Aufruhr in einen Scherz umwandelte: "Versetzt euch in meine Lage, schlimm genug, dass ich jeden Morgen im Spiegel meine Höckernase vor Augen bekomme, da muss sie mir nicht auch noch hier präsentiert werden."
"Ei, ich - ich habe sie doch nur angedeutet", stammelte Lucia, worauf er ihr mit versöhnlicher Miene darlegte:
"No, Lukas, darum geht es nicht."
Jetzt belustigte sich Giovanni: "Eben verstehe ich, Lukas hat den Maestro porträtiert, und das in seiner unwirschen Art. Also da würde auch ich fuchtig werden."
Darüber musste nun auch Salai grinsen, starrte aber weiterhin unverwandt auf Leonardos Nase, bis der
Weitere Kostenlose Bücher