Hexennacht
Fischerboot zu sehen, dessen Ruder es langsam näherbrachten. Das Segel war festgemacht, denn da das Land sich schneller abkühlte als das Meer, kam eine Brise auf, die es zurückgetrieben hätte.
Von außerhalb des Tempels drangen Geräusche. Mäuse, vielleicht, oder Hunde; möglicherweise auch Landstreicher, die für die Nacht Unterschlupf suchten.
Doch, was Hort gesagt hatte, ließ darauf schließen, daß die für heute nacht geplante Zeremonie auf die Besatzung des Schiffes beschränkt sein würde, das Stern zum Totenhafen gebracht hatte. Vermutlich würden nicht alle Setmur kommen, aber gewiß zumindest noch einige der großen Gemeinschaft. Der Tunnel war ein gutes Versteck. Und da man eine Wache im Tempel postiert hatte, konnte man annehmen, daß Stern hierhergeschafft werden würde.
Samlor schlich den Weg zurück, den er gekommen war. Er schob ein Ende des beysibischen Bogens zwischen Falltür und Rahmen. Dadurch blieb sie einen Spalt offen, durch den Samlor sehen und besser hören konnte. Allerdings könnte auch er dadurch bemerkt werden. Aber das Licht war so schwach, daß er nicht damit rechnete. Obendrein bot ja auch der Alkoven selbst ein wenig Schutz. Dann wartete Samlor mit der Geduld eines Reptils.
Jene, die als erste kamen, waren nur verschwommene Schatten, die weder Fackeln noch Kerzen mitbrachten. Schals und enge Beinkleider, wie der Wächter sie getragen hatte, kamen in Samlors Blickfeld. Die Anwesenden redeten leise, doch hin und wieder hob einer die Stimme und rief »Shaushga!« Vielleicht war das der Name des Toten.
Wenig später scharrte der Schiffsrumpf über den Sand. Weitere Stimmen waren zu hören. Wasser platschte, als mindestens ein Dutzend Personen vom Schandeck hinuntersprangen. Dann kratzten hornharte Sohlen barfüßiger Fischer über den Tempelboden. Eine winzige Öllampe erschien lichthungrigen Augen wie eine Sonne.
In der Mitte des offenen Raums stellte ein Beysiber in roter Robe die Last ab, die er getragen hatte. Es war Stern. Es mußte Stern sein! Auch sie war ganz in rot gekleidet. Ihr Haar hatte man zu kurzen abstehenden Zöpfen geflochten, die an Tentakel erinnerten. Es sah aus, als habe der Stern über ihrer Stirn acht weiße Fangarme.
»Ich will nicht!« rief das Kind. »Ich will ins Bett!« Es weigerte sich, sich auf den Füßen zu halten. Als der Mann es auf den Boden setzte, legte es sich hin und kuschelte sich zusammen.
Der Mann in Rot und eine Frau, die so farblos wie alle andern war, mit braun-schwarzem Schal bekleidet, beugten sich über das Kind. Sie sprachen eindringlich und sowohl auf beysibisch wie in einer Mischung einheimischer Dialekte. Doch selbst letztere konnte Samlor, aufgrund der fremdartigen Betonung und auch der schlechten Akustik, nicht verstehen. Der Mann in Rot hielt Stern an den Schultern. Aber er wendete keine Gewalt an, sondern versuchte offenbar, ihr gut zuzureden.
Das Fischerboot war weiter in die Bucht gerudert oder gezogen worden, so daß Samlor es nicht mehr sehen konnte. Er war jetzt jederzeit bereit einzugreifen. Doch war er nicht mehr ganz so angespannt wie kurz vor dem Angriff auf den Wächter. Er würde wieder töten müssen, daran bestand kein Zweifel. Doch im Augenblick wartete Samlor noch. Im Tempel hielten sich nun etwa zwanzig Beysiber auf. Einige befanden sich zwischen Stern und der Falltür. Das würde Samlor zwar nicht davon abhalten, zuzuschlagen, wenn es soweit war, doch es war durchaus möglich, daß die, die jetzt noch herumwanderten, sich irgendwoanders postieren würden, sobald die Zeremonie begann.
Stern hatte sich doch überreden lassen und erhob sich. Während des flüchtigen Moments, in dem ihr Gesicht ihm zugewandt war, erkannte Samlor, daß sie schmollte. Er verstand nicht, daß irgend jemand sie für die Tochter der Magd hatte halten können. Selbst der Zug um ihre Lippen war ein Spiegelbild von Samlane. Die Beysiber verstummten. Rasch stellten sie sich zu beiden Seiten des Tempeleingangs auf, ähnlich wie Samlor es gehofft hatte. Stern streckte die Arme aus, mit den Handflächen auf die Bucht gerichtet. Der Mann in Rot war noch bei ihr, doch die Frau hatte sich zu den andern vor dem Tempel gesellt. Stern begann mit gelangweilter Stimme etwas aufzusagen. Sie benutzte eine Sprache, die Samlor nicht kannte. Aus der Regelmäßigkeit der Töne und Silben schloß er, daß es sich möglicherweise um keine Sprache handelte, sondern die Laute lediglich dazu dienen sollten, die Teile des Gehirns in Konzentration zu
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