Hexennacht
Erde umgab die Knochen mit neuem Fleisch. So lag er im Schoß der Erde eine Jahreszeit lang oder ein Jahrhundert, und als seine Zeit gekommen war, fand er sich auf einer Waldlichtung, wo Blumen wie Juwelen glitzerten. Sein neuer Körper war geschmeidig und stark wie eine Degenklinge.
Er sprang auf, ging über die Lichtung und genoß die Farben, die sanfte Luft und die vibrierende Kraft seines neuen Körpers. Dann hörte er Musik und ging auf die Klänge zu.
Wo der Eichenhain lichter wurde, erstreckte sich eine grüne Wiese hinunter zu einem Teich, den ein gurgelnder Wasserfall speiste. Dort stand ein Tisch, auf den ein karmesinrotes, goldumsäumtes Tuch gebreitet war. Auf diesem Tuch standen Kristallpokale, gefüllt mit dem Wein aus Caronne, Platten mit gebratenem Fleisch, weißes Brot und Silberschalen mit Orangen aus Enlibar. Ein Mahl für die Götter , dachte Lalo. Und so war es auch - die Götter feierten hier.
»Wir haben Euch erwartet«, sagte eine Stimme. Eine Maid, lieblicher als die schönste Konkubine in Prinz Kadakithis’ Harem, half ihm in ein blaues, mit goldenen Drachen besticktes Seidengewand und kniete dann nieder, um ihm in die goldenen Sandalen zu helfen. Die schwarzen Locken, die ihr bis auf die Hüften fielen, schimmerten blau im Sonnenlicht, und als sie zu ihm aufsah, erkannte er das Gesicht: es war Valira, die kleine Hure, die er als Eshi, Liebesgöttin, gemalt hatte. Er zitterte, als ihm bewußt wurde, wer ihm diente.
Sie führte ihn an einen Platz am Ende der Tafel, und er aß, dankbar, daß die anderen Götter weiter miteinander sprachen, ohne große Notiz von ihm zu nehmen. Der Gott neben Eshi mußte Anen sein, dachte Lalo. Er hatte den feisten Bauch und die rote Nase wie damals seine Saufkumpane, als er bei billigem Wein Vergessen suchte. Das Fett des Gottes verriet ein angenehmes Dasein, und das Glühen seiner geröteten Wangen wärmte auch das verzweifeltste Herz. Lalo gedachte früher erwiesener Gunst und prostete ihm zu.
Der Gott bemerkte es und sah ihn an. In den Augen des Gottes erkannte Lalo stummes Leid, da erinnerte er sich, daß dies der Gott war, der jährlich starb und wiedergeboren wurde. Dann lächelte Anen, und Freude strömte in Lalos Herz. Er sah, wie sein Kelch sich füllte mit einem Wein, dem Blut der Sterne gleich.
Der Wein gab ihm Mut, sich die anderen anzusehen - die sanfte Theba, die Friedensbringerin, schattengleich neben ihr, den flinkfüßigen Shalpa, dessen Gesicht Lalo an jemanden erinnerte, den er oftmals im Wilden Einhorn gesehen hatte, nur fiel ihm im Augenblick nicht ein, wer es war. Aber er sah das Gesicht jedes Söldners, der ihm je begegnete, im Antlitz von Ihm-den-wir-nicht-nennen, der selbst hier gerüstet und gewappnet saß. Den würzigen Humor der Frauen, die in den Färberläden über Tücher feilschten, bemerkte er im Gesicht der blonden Thilli, bis er schließlich entdeckte, daß er alle kannte und daß er sie alle gemalt und unter ihnen in Freistatt gelebt hatte, ohne es wahrzunehmen.
»Vater, du hast Vashanka fürs erste besiegt, aber die Priester Savankalas halten nach wie vor in Freistatt einen Ehrenplatz für ihn bereit!« Eshi sprach zu dem strahlenden Licht am Ende der Tafel, wohin Lalo noch nicht gewagt hatte zu schauen.
»Vashankas Macht ist gebrochen, bis ein neuer Körper, dessen er sich bedienen kann, heranreift.« Die Stimme sirrte in Lalos Ohren. »Es sind nicht die Götter Rankes, die mir Sorgen machen. Es ist diese neue Göttin, diese Bey, um die wir uns kümmern müssen.«
»Ihre Anbeter sind Flüchtlinge, und das Reich, aus dem sie flohen, sollte der Göttin erste Sorge sein. Wieviel Macht kann sie in Freistatt haben?« fragte Thilli. Einen Augenblick lang lehnte sich Thufir, ihr Gatte, vor, um zuzuhören, und Lalo erschrak, als dessen stechender Blick ihn streifte. Die Priester nannten Thufir den Freund der Sikkintair, wie sie Ils deren Meister nannten. Sie hatten ihn ihre Weitsicht gelehrt. Hatte er ihnen befohlen, Lalo hierherzubringen?
»Ich bin dieser Streitereien müde«, seufzte Shipri. »Als du die Rankanier in ihre Schranken verwiest, glaubte ich, wir bekämen wieder Frieden. Ich habe mich nun mit Sabellia geeinigt, und diese neue Göttin und ich werden wohl ebenso verfahren müssen. Schließlich ist sie eine Göttin und deshalb wohl auch vernünftiger als ein Gott.«
Lalo lehnte sich erleichtert zurück. Er hatte seine Frau als Sabellia gemalt, und während der letzten Minuten fürchtete er Shipris Eifersucht.
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