Hexennacht
Türrahmen. »Du gehst aus?« Ihre Aufmachung ließ ihn das vermuten.
»Es ist schon fast dunkel«, antwortete sie. »Ich besuche den Tempel. Außerdem möchte ich eine Menge über diese Stadt erfahren.« Mit spöttischem Lächeln wandte sie sich an Molin: »Warst nicht du es, der sagte, Geheimnisse lassen sich am besten des Nachts erforschen?«
»Ganz sicher nicht!« entgegnete er verärgert. »Und wenn du in dieser Aufmachung herumläufst, forderst du Schwierigkeiten nur so heraus! Es gibt so manche in dieser Stadt, die dich allein dieser Kleidung wegen umbringen würden, geschweige denn, um dein Schwert oder deinen Stirnreifen an sich zu bringen!«
Sie kehrte zur offenen Truhe zurück, brachte zwei Dolche zum Vorschein und steckte sie durch die Zierhalter um ihre Oberschenkel. »Ich werde nicht allein sein«, erklärte sie. »Ich nehme Reyk mit.«
»Wer ist Reyk?« fragte Molin seinen Bruder. »Einer dieser Riesen, die ihr mitgebracht habt?«
Lowan schüttelte nur den Kopf. »Paß auf dich auf, Kind«, mahnte er. »Die Straße ist eine völlig andere Art von Arena.«
Chenaya kramte noch einen Kapuzenumhang hervor, dann schloß sie die Truhe. Als sie aus der Kammer ging, stellte sie sich auf Zehenspitzen, um ihrem Vater einen Kuß auf die Wange zu hauchen. An Molin Fackelhalter hingegen schritt sie achtlos vorbei.
Es befand sich weder Sand unter ihren Füßen, noch hatte sich eine Menge versammelt, um ihr zuzujubeln, und doch befand sie sich in einer Arena. Chenaya spürte Gegner lauern, die sie aus dunklen Winkeln und düsteren Gassen beobachten. Sie konnte ihren Atem hören und das Schimmern von Augen im Finstern erkennen.
O ja, sie war in einer Arena, aber hier beeilte der Gegner sich nicht mit dem Angriff. Hier gab es nicht das Rasseln und Klirren von Metall, das die Zuschauer in Bann zog. Hier versteckte der Gegner sich und bildete sich ein, daß sie ihn nicht sehen könne: armselige Diebe, ohne Mumm in den Knochen; beklagenswerte Meuchler mit festeren Klingen denn Rückgrat. Sie lachte leise vor sich hin und klimperte mit dem Beutel, um sie herbeizulocken - sie verhöhnte sie, wie sie es bei einem ehrenwerteren Gegner in der Arena nicht getan hätte.
Vielleicht , dachte sie, sollte ich meine Kapuze Zurückschlagen, damit sie sehen, daß ich eine Frau bin ... Aber sie tat es nicht. Sie wollte in dieser Nacht viel tun und viel erfahren.
Die Tempelallee lag dunkel und verlassen. Der Tempel der rankanischen Götter war leicht zu finden: Der prächtige Bau überragte alle andern, und am Eingang loderte Feuer in Kohlenbecken. Doch so sehr sie mit dem Eisenring an die Tür hämmerte, niemand öffnete ihr. Sie fluchte. In der Hauptstadt waren die Türen immer geöffnet. Sie warf den Eisenring ein letztes Mal gegen das Holz, dann drehte sie sich um.
»Unser aller Vater«, betete sie, während sie die Tempeltreppe hinunterstieg, »sprich zu mir, wie du es in jener Nacht vor vielen Jahren getan hast.« Doch die Götter blieben so still wie die nächtlichen Straßen der Stadt.
Sie hielt kurz inne, um sich zurechtzufinden. Die hohe Mauer zu ihrer Rechten mußte zum Palasthof gehören, demnach hieß der Park links von ihr Zum himmlischen Versprechen, so jedenfalls hatte man ihn genannt, als sie am Nachmittag daran vorbeigekommen war. Dort fanden Männer, die sich keine der besseren Freudenmädchen leisten konnten, wohlfeile Liebesdienste durch halbverhungerte, unerfahrene Mädchen und Frauen. Sie zuckte die Schultern und folgte der Mauer, vorbei am Park, bis sie zu einer anderen Straße gelangte, an die sie sich ebenfalls von ihrem nachmittäglichen Ausflug erinnerte: die Hauptstraße.
Wieder blieb sie stehen. Diesmal schaute sie zum Himmel hinauf. Sie staunte, wie hell die Sterne über dieser Kloake von Stadt leuchteten. Obgleich sie zu Savankala betete und in seinem Namen fluchte, faszinierte sie die Nacht. Sie hatte eine Ausstrahlung wie keine Zeit des Tages.
Chenaya pfiff leise. Ein flinker Schatten, der unter den Sternen dahinglitt und jene in seinem Weg verdunkelte, stieß herab. Sie streckte den Arm aus, über den sie die Manica gestreift hatte, und Reyk kreischte einen Gruß, als er seine Schwingen faltete und sich auf ihrem Handgelenk niederließ. Als Antwort schnalzte sie mit den Lippen, dann befestigte sie einen Riemen, der von ihrem Gürtel gehangen hatte, um sein Bein.
»Spürst du es auch, Freund?« wisperte sie dem Falken zu. »Die Stadt? Die Dunkelheit? Sie ist voller Leben!« Erneut
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