Hexennacht
schnalzte sie mit den Lippen, und Reyk schlug mit den Flügeln. »Natürlich fühlst du es!« Sie schaute sich um und drehte sich einmal im Kreis. »Sie brodelt auf eine Weise, wie Ranke es nie getan hat! Ich glaube, es wird uns hier gefallen, Freund. Schau mal!« Sie deutete auf einen Schatten, der auf der anderen Straßenseite vorbeihuschte. Sie winkte ihm zu. Er blieb stehen, musterte sie und hastete weiter. Chenaya lachte, als er im Dunkeln verschwand.
Mit Reyk auf dem Arm wanderte sie die Hauptstraße entlang und staunte, daß die paar Fremden, die sie erspähte, ihr auswichen und von Hauseingang zu Hauseingang schlichen. Sie stiefelte in der Mitte dieser gepflasterten Straße und der Knauf ihres Schwertes glitzerte - für Diebe eine Verlockung und Warnung gleichermaßen.
Plötzlich trug der Wind einen ungewohnten Geruch herbei. Sie hob schnuppernd die Nase. Salzige Meeresluft, die sie niemals zuvor gerochen hatte. Ein seltsamer Schauer rann über ihren Rücken. Sie dachte oft ans Meer, ja sie träumte sogar davon. Ihr Schritt stockte. Wie weit es wohl noch bis zum Hafen war? Sie lauschte, um die Brandung zu hören. In Erzählungen und Märchen hatte sie viel von der wilden, schäumenden Kraft des Meeres gehört. Nichts faszinierte sie mehr als der Gedanke an die stürmische See.
Lauschend und schnuppernd beschleunigte sie ihren Schritt.
Endlich, an der anderen Seite einer ungewöhnlich breiten Straße sah sie den Hafen mit den dunklen Umrissen von Schiffen. Kahle Masten reckten sich dem Himmel entgegen, Spannseile summten in der leichten Brise, die über das Wasser blies. Die See war ruhig, keine peitschende Brandung, sondern nur sanfte, zarte Wellen. Neue Gerüche vermischten sich mit dem des Salzes: Es roch nach Fischen, nassen Netzen und nach Rauch von Kochfeuern. Zu sehen waren diese Feuer nicht, falls sie überhaupt noch brannten. Nur schwaches Licht da und dort hinter Fenstern brach die Dunkelheit.
Ihre Haut prickelte, als sie leise die breite Uferpromenade überquerte und auf einen der langen Piers trat. Nun befand sich Wasser unter ihr: Ganz leicht schaukelten die Planken unter ihren Schritten. Über ihr warf der Mond seinen Silberschein auf die sanften Wellen.
Sie schlug die Kapuze zurück. Die Brise, die sich kühl und frisch anfühlte, spielte mit ihrem Haar. Sie warf auch den Umhang zurück und holte tief Atem, bis ihre Lunge mit der salzigen Luft gefüllt war.
Unerwartet erhob sich ein Schatten vor ihr. Ihr Schwert blitzte, als sie es aus der Scheide riß. Reyk flog kreischend hoch, als sie seinen Fußriemen löste.
Sie duckte sich zum Angriff und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen.
Aber der Schatten war erschrockener als sie. »Bitte, tu mir nichts!« Es war die Stimme eines Kindes, eines Jungen, nahm sie an. »Bitte!« Es streckte ihr die leeren Hände entgegen.
Chenaya richtete sich auf und steckte die Klinge wieder ein. »Was bei den Göttern machst du hier?« flüsterte sie scharf. Fast hätte sie jetzt ungewollt ein Kind getötet - etwas, das sie nie getan hatte und nie tun wollte. »Es gibt nur wenige Erwachsene, die genug Mut haben, sich zu dieser späten Stunde ins Freie zu wagen!«
Offenbar zuckte das Kind die Schultern. »Ich spiele bloß«, antwortete es zögernd.
Sie verzog das Gesicht. »Lüg mich nicht an. Aus deiner Stimme schließe ich, daß du ein Junge bist. Bist du zum Stehlen aus?«
Das Kind antwortete nicht sofort, sondern drehte sich um und starrte aufs Meer hinaus.
»Ich habe mich fortgestohlen«, gestand es schließlich leise. »Ich komme oft hierher, damit ich übers Meer schauen kann, wo meine Heimat ist.« Er setzte sich wieder, und seine Beine baumelten über dem Wasser.
Sie setzte sich neben ihn und musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er war etwa zehn, schätzte sie. Der traurige Klang seiner Stimme rührte sie. »Deine Heimat?«
Er deutete stumm mit einem Finger.
Er war demnach ein Beysiber; damit hatte sie nicht gerechnet. In der Dunkelheit ließ sich das zwar nur schwer feststellen, aber soviel sie erkennen konnte, sah er nicht anders als rankanische Kinder seines Alters aus; er roch auch nicht anders; und er hatte nicht versucht, sie zu töten - nicht, daß er bei seiner Größe eine Gefahr für sie gewesen wäre!
Sie folgte seinem Blick über das Wasser und spürte erneut, wie ihr ein Schauer über den Rücken rann. Ihm folgte etwas, das sie selten erlebte: ein innerer Friede, als wäre sie heimgekehrt.
»Wie nennt Ihr Beysiber das Meer?«
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