Hexennacht
Scherben mit den Zehen zur Seite. Es gab Schlimmeres; gewiß konnte sie im Einhorn noch eine Flasche bekommen.
Plötzlich prickelte ihr Rücken. Sie kniete sich, um besser sehen zu können, dann warf sie einen Blick über die Schulter auf dem Himmel. Der Mond schaute als leuchtende Sichel herab, und in jeder Scherbe spiegelte sich sein Silberschein.
Die Stimme ihres Gottes dröhnte auf einmal in ihrem Kopf: Wenn der zersplitterte Mond im Staub der Erde liegt!
Sie löste den Fußriemen des Falken. »Hoch!« schrie sie, und Reyka schoß in die Lüfte.
Die Warnung Savankalas hallte in Chenayas Ohr, als sie durch die Straße nach Hause rannte. Atemlos stürmte sie durch die Türen.
»Dayrne!« brüllte sie. Er hatte ihr nicht gehorcht: Vollgekleidet und bewaffnet stürzte er aus einer Kammer. Doch jetzt war nicht die Zeit, ihn zu rügen. »Dayrne! Es ist soweit!«
Sie brauchte nichts zu erklären. Er verschwand und kehrte mit einem Rucksack zurück. Vier seiner Kameraden folgten ihm und schnallten Schwerter um. »Bleibt und schützt meinen Vater!« befahl sie ihnen.
»Wo ist Reyk?« erkundigte sich Dayrne.
Sie hob einen Finger. »Immer in der Nähe. Ich kann nicht gleichzeitig laufen und ihn tragen.«
Gemeinsam stürzten sie in die Dunkelheit durch düstere Straßen. Die Umrisse der Tempel erhoben sich links von ihnen, und aus den dunklen Eingängen drängten die Stimmen von Göttern sie zur Eile - vielleicht war es aber auch bloß der Wind, der durch die Gassen pfiff und sie antrieb, während der Mond auffordernd vorausschwebte.
Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich die herausfordernd hohe hintere Palastmauer. »Zur Westseite!« zischte Chenaya.
Sie hatten alles sorgfältig geplant. Die Palasttore waren des Nachts verriegelt; lediglich sechs Wachen patrouillierten die Innenhöhe. Zutritt war nur mit des Prinzen Erlaubnis gestattet. Aber sie und Dayrne hatten einen Zugang gefunden.
Auch um die Speicher war eine Mauer errichtet. Zu ihrer Westseite rannten die beiden. Dayrne legte seinen Rucksack ab und holte Kletterhaken und -seil heraus. An dieser Stelle war die Mauer ziemlich niedrig und leicht zu erklimmen. In Windeseile hatten sie sich hinaufgeschwungen und liefen die schmale Mauerkrone entlang, die allmählich schräg hinaufführte, bis sie über dem Speichertor, unmittelbar gegenüber der Palastmauer, ihren höchsten Punkt erreichte. Dayrne griff nach dem zweiten Kletterhaken.
Hanse war schon einmal in den Palast eingedrungen und hatte damit geprahlt. Niemand war imstande, einen Kletterhaken bis zur Krone der Palastmauer zu werfen, behauptete er. Wahrscheinlich hatte er recht. Aber die Straße der Satten, die Speicher und Palast trennte, war nicht so breit wie die Mauer hoch. Trotzdem wäre ein Durchschnittsmann nicht fähig, so weit zu werfen; doch Dayrne mit seiner Geschicklichkeit und geschmeidigen Kraft vermochte es.
Die Nacht summte, als er den Haken in immer größeren Kreisen wirbelte, während Chenaya sich flach auf die Mauerkrone gelegt hatte, um nicht versehentlich getroffen zu werden. Schließlich schleuderte er. Haken und Seil flogen durch die Luft, dann scharrte Metall über Stein. Dayrne zog das Seil straff.
Diesen Teil des Unternehmens hatten sie nicht geprobt, aber Chenaya hatte Vertrauen zu ihrem Freund. Er spreizte die Beine, seine Muskeln schwollen an, und er nickte. Sie griff nach dem Seil und trat ins Leere. Dayrne ächzte, aber er ließ es nicht los. Immer eine Hand vor die andere klammernd, bewegte sie sich auf die gegenüberliegende Mauer zu und schwang sich hinauf. Das Seil wurde schlaff. Wie gut sie sich die Schürfwunden an Dayrnes Händen und Unterarmen vorstellen konnte!
Ihre Bestechung hatte sich in gewisser Hinsicht doch bezahlt gemacht. Unmittelbar unter ihr befand sich das Dach des Gesindehauses. Sie zog das Seil ein, ließ es auf der Innenseite hinab und kletterte daran hinunter. Sie war auf dem Hof.
Aber wo waren die Wachen? Keine Menschenseele war zu sehen.
Was jetzt? Weiter hatte sie nicht geplant. Sie huschte von Schatten zu Schatten. Da und dort fiel ein Streifen Licht aus einem Fenster. Auf dem höchsten Turm flatterte eine Fahne heftig im Wind. Ziemlich weit rechts befand sich das Henkerstor. Ohne zu überlegen, rannte sie darauf zu. Ein gewaltiger, metallverstärkter Holzballen von Torbreite verriegelte es. Stirnrunzelnd drehte sie sich um - und stolperte. Sie landete auf allen vieren, und der Knauf ihres Schwertes drückte in ihre Rippen. Mit einer
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