Hexenopfer
Träume – Ihre Albträume – seien Visionen. Kann sein, dass das am Einfluss Ihrer Großmutter liegt. Wenn sie sich für eine Hexe hielt …«
»Das tat sie nicht«, sagte Genny. »Manche haben sie aufgrund ihrer Kräfte Hexe genannt. Granny hatte das Zweite Gesicht, mehr nicht.«
»Wissen Sie, wie absurd das klingt? Heutzutage glauben geistig gesunde Menschen nicht an Hokuspokus. Aber es gibt Tausende, die an Magie glauben wollen, daran, dass es einfache Lösungen für ihre Probleme gibt. Da draußen sind so viele verdammte Scharlatane, die sich an emotional verletzbaren Menschen schadlos halten. Sie würden nicht glauben, wie vielen Schwindlern ich bei meiner Arbeit über den Weg gelaufen bin.«
»Und was ist mit den Übersinnlichen, die keine Schwindler sind?«
»Die gibt es nicht.«
Dallas’ Beteuerung war mehr als eine Feststellung. Sie war ein Schutzschild, das ihn vor ihr abschirmte. Vielleicht wusste er es nicht; aber ihr war es klar.
»Verstehe.« Sie sah unter die Oberfläche, tief hinein in diesen großen, einsamen Mann mit dem verwundeten Herzen und der gequälten Seele.
Sie drehte sich um und machte sich daran, koffeinfreien Kaffee aufzusetzen, während Dallas neben der Tür stand. Nach ein paar Momenten des Schweigens streifte er seine Handschuhe ab und steckte sie in die Manteltaschen, dann zog er den Mantel aus und legte ihn über die Rückenlehne eines Küchenstuhls.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte er.
»Halten Sie einfach die Ohren für Drudwyn auf, wenn er an der Hintertür kratzt.«
»Mach ich.«
Genny holte zwei blauweiße Porzellantassen und Untertassen aus dem Hängeschrank und stellte sie auf den Tisch. Ihr fiel ein, dass Dallas seinen Kaffee schwarz trank, so wie sie, daher musste sie weder Milch noch Zucker auftischen. Das Schweigen zwischen ihnen hielt an. Der Kaffee lief durch. Die Uhr in der Diele schlug Viertel nach acht.
»Wollen Sie mir von Ihrer Nichte erzählen?«, fragte Genny, die spürte, dass Dallas seine Trauer nie richtig mit jemandem geteilt hatte. Er war nicht der Typ, der eine Ader aufschlitzte und überall emotionales Blut vergoss.
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie mir erzählen wollen.« Genny hob die Glaskanne von der Kaffeemaschine, füllte beide Tassen bis an den Rand und stellte die Kanne auf die Warmhalteplatte.
Dallas zog ihren Stuhl hervor und ließ sie Platz nehmen, bevor er sich ihr gegenüber hinsetzte und die verzierte Tasse an den Mund hob. Er trank einen Schluck. »Brooke war fünfzehn. Ihr Geburtstag war ein paar Wochen nach … Sie war ein hübsches Mädchen. Blond, blaue Augen. Das typische ›Mädchen von nebenan‹. Und sie war klug und goldig und …« Er nahm noch einen Schluck Kaffee und hielt seine Tasse dann zwischen beiden Händen.
»Und Sie haben sie von ganzem Herzen geliebt«, stellte Genny fest.
Dallas warf Genny einen finsteren Blick zu und kämpfte gegen das Bedürfnis an einzugestehen, wie sehr ihn Brookes Tod getroffen hatte. Er stellte seine Tasse auf die Untertasse und schaute auf den Tisch. »Sie war das erste Kind meiner Schwester. Wir haben sie alle angehimmelt. Sie war ein prächtiges Kind.«
Genny legte ihre Hand auf die seine. Sogleich spannte er sich an, als fände er ihre Berührung unerträglich. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Ihre Blicke trafen sich, und er schaute rasch zur Seite, dann entzog er ihr seine Hand.
»Ich sollte mich auf den Weg machen.« Er schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Schließen Sie auf jeden Fall ab, wenn ich gehe. Und bitte seien Sie besonders vorsichtig.«
Genny stand auf, folgte ihm zur Hintertür hinaus auf die Veranda. Drudwyn kam aus dem Wald gelaufen. Das bleiche Mondlicht wurde vom Schnee reflektiert und erhellte den Hof.
»Dallas?«
Er blieb stehen, warf einen Blick über die Schulter und sah sie direkt an. »Ja?«
»Viel Glück, dass Sie finden, was Sie suchen.«
»Ich will, dass dieser Mörder geschnappt wird und man ihm das Handwerk legt«, sagte Dallas. »Ich will nicht, dass noch mehr Familien die Hölle durchmachen müssen, die wir durchgemacht haben, als wir Brooke verloren.«
Genny spürte, dass Dallas in Wirklichkeit Brookes Mörder selber mit bloßen Händen töten wollte, ihn strangulieren, bis er tot war, langsam, grausam. Sie schauderte bei dem Gedanken daran, wie Dallas’ große, starke Hände einen Mord begingen.
Aber war ein Racheakt wirklich Mord?
Genny nickte. »Fahren Sie vorsichtig.«
»Mach ich«, erwiderte er.
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