Hexensabbat
verspürte ein leichtes Kratzen im Hals wie bei einer beginnenden Erkältung, sie hatte Lust zu nichts. Nicht einmal das Telefon klingelte, sie fühlte sich abgeschnitten von der Welt. Till war nicht nach Hause gekommen; ob er drüben geschlafen hatte? Sie stellte es sich vor, wie er zu seiner üblichen Zeit das fremde Gartenpförtchen öffnete und grüßte. Die Frau im Parterre war eine Tratsche, es würde wie ein Lauffeuer durch die Brüderlingasse ziehen: Der Liebold geht fremd, gleich vis-a-vis, und um die Ecke auch noch mit der Blumenmaid. Ein toller Hirsch!
Anna trank ihren Kaffee, es war schon die dritte Tasse, und eigentlich hätte sie es genießen sollen nach einer Woche Teebeutelchen. Aber sie hatte nur einen faden Geschmack im Mund, womöglich bekam sie eine Grippe. Sie blätterte in der Zeitung, sie hatte sie sich gleich um sieben Uhr aus dem Briefkasten geholt. Was macht er wohl ohne seine Zeitung, ging es ihr durch den Kopf, aber auch dieser kleine Triumph schmeckte eher schal. Seit sie beide über Kreuz waren, nahm Till den Stadtanzeiger, »ich habe ihn schließlich auch bezahlt«, jeden Morgen mit ins Geschäft, und abends legte er ihn auf den Stapel Altpapier. Anna hatte eine Woche lang zum Frühstück die Zeitung vom Vortag gelesen, und sie hatte darauf geachtet, das Blatt genauso wieder zurückzulegen. Trotzdem war sie das Gefühl nicht losgeworden, daß Till wußte, daß sie sich an seinem Altpapier bediente. Heute aber war er nicht da.
Sie schlug den Veranstaltungskalender auf, es gab Führungen und Theater, Kunst, Literatur, Musik, Film, Zirkus, Religiöses und Selbsthilfegruppen, jede Menge Selbsthilfegruppen, sie hatte keine Ahnung gehabt, was Leute so zusammentrieb. Bei dem Gedanken, in einem Kreis betrogener Ehefrauen zu hocken und zu klagen, überzog sie ein Schauder. Dann machte sie schon lieber in Kultur, es mußte einfach eine Möglichkeit geben, in dieser Stadt sinnvoll die Zeit zu verbringen.
Sie glitt mit dem Finger die Spalten entlang, »Brauhaus-Wanderung, Köln in der Spätgotik, Turn dich fit, Volkssternwarte, Sagen und Verzällcher, Zur Pflegeversicherung, Frauenfrühstück …« Es hörte nicht auf, Spalte um Spalte, sie wußte nicht, ob sie darüber lachen sollte oder es ernst nehmen; es kam ihr nicht vor wie etwas, was dazu gehörte, jedenfalls nicht zu ihrem Leben. Als ob einer einen Riesenteller mit sauren Gurken und Schokolade und Müsli und Eisbein und Austern und Hamburgern vor sie hingestellt hätte, »iß mal tüchtig!« Bei dem Wort »Hamburger« wurde ihr warm, sie hatte den Mann aus Hamburg nur ein paar Stunden gekannt, aber er hatte etwas in ihr angetippt, normalerweise dauerte das lange bei ihr.
Sie dachte darüber nach, was sie all die Jahre getan hatte. Sie hatte studiert, alles mögliche, aber natürlich nicht von früh bis spät, und auch nicht nur Studienfächer. Sie war Ehefrau gewesen, keine besonders perfekte, der Haushalt hatte sie nicht sehr beschäftigt. Und sie war siebzehn Jahre lang eine Studierende gewesen, sie hatte mit sehr viel Hingabe in Büchern und Gesichtern und Stimmen herumgestöbert, sie hatte sich dieses große Universitätsgelände »Leben« erobert. Anfangs hatte es ihr Angst gemacht, aber zuletzt war es ihres, dazu gehörten auch die Enten am Weiher, das Schlittschuhlaufen, wenn der Weiher zugefroren war. Und im Sommer konnte sie stundenlang auf der Wiese liegen und die Leute beobachten, es gab verrückte Leute, sie mischten sich unter die normalen, aber vielleicht sahen die auch nur normal aus. Garantiert hätte niemand Till zugetraut, was er jetzt tat, er sah eher aus wie einer von den sehr Braven und Fleißigen und Zuverlässigen. Von wegen!
Anna hatte sich fest vorgenommen, Till auszublenden, wenigstens stundenweise. Sie mußte eine neue Linie in ihr Leben bringen und selbst etwas bewegen. Mit Marie zusammen war ihr das nicht schwer erschienen, »du hast etwas, du mußt es nur rauslassen«, aber hier, vor ihrer dritten Tasse Kaffee und mit dem Veranstaltungsteil aus Tills Zeitung in der Hand, klemmte sie total. Sie griff nach dem Telefon, klappte es auf und tippte Maries Nummer ein, hoffentlich war sie da.
Marie meldete sich. Ihre Stimme hörte sich an, als ob sie nicht allein wäre. Einer von gestern abend, überlegte Anna, aber ihr fiel kein Gesicht ein außer dem von David, wieder gab es ihr einen Stich.
»Störe ich dich?« fragte Anna.
»Nö! Nicht unbedingt.«
»Hast du eine Idee, was ich heute unternehmen könnte?«
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