Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
musste, damals, als Julia tatsächlich noch gelebt hat.
Doch das ist erst der Auftakt zu einer Serie von Szenen, die nur einem völlig kranken Gehirn entsprungen sein konnten.
Wagner geht zurück in den Garten. Hier sieht alles noch genauso aus, wie zu dem Zeitpunkt, an dem Christina hastig aufgebrochen war. Wagner nimmt den Korb mit dem Essen, das Alufolienpaket mit dem restlichen Brathuhn, die Thermoskanne und die Kaffeebecher und stellt alles ins Gras neben die karierte Wolldecke. Dann beutelt er die Decke aus, faltet sie sorgfältig zusammen und legt sie neben den Korb. Er konzentriert sich auf jeden Handgriff, jede Berührung, und achtet auf die unterschiedlichenEmpfindungen, welche die verschiedenen Dinge in seinen Handflächen und Fingerspitzen auslösen: das rippige Flechtwerk des Korbgriffs, die scharfen Kanten und Spitzen der zerknüllten Alufolie, die kühle Glätte der Thermoskanne und der Becher und die weiche Rauheit der Wolldecke. Dann streicht er mit der flachen Hand über ein paar niedergedrückte Grashalme an der Stelle, wo die Decke lag. So, als müsste er sich vergewissern, dass er sich das alles nicht nur einbildet, sondern dass es tatsächlich existiert.
Doch, alles ist wirklich da. Auch der Gesang seiner Mutter, der noch immer aus dem Haus zu hören ist. Und die Ameisen, die auf der Alufolie krabbeln und die er rasch wegpustet, bevor er die Brathuhnreste zum Gartentor trägt und dort in die Mülltonne wirft. Nur das kleine Mädchen auf dem Fahrrad ist nicht da, als er auf die Straße blickt. Dafür fährt jetzt ein Streifenwagen ganz langsam vorbei. Wagner hebt die Hand zum Gruß, aber die Kollegen im Auto bemerken ihn nicht. Vermutlich fahren sie hier jetzt ein bisschen öfter Streife, damit sich die Leute in der Gegend wieder sicher fühlen. Bewährte Polizeimethode. Einfach Präsenz zeigen, bis sich die Aufregung wieder gelegt hat, nachdem ein Verbrechen geschehen ist.
Da fällt Wagner ein, dass er völlig vergessen hat, neue Schlösser fürs Gartentor und die Haustür zu besorgen. Gleich morgen Vormittag wird er das erledigen, nimmt er sich vor. Und den Kühlschrank seiner Mutter sollte er vielleicht auch wieder auffüllen. Er könnte ihr ja gleich einmal die Schüsseln mit dem Gurkensalat und dem Kartoffelsalat bringen. Gute Idee, denkt er, das wird er jetzt machen. Frisch aus dem Lindenwirt, wird er sagen. Passt zu dem Lied, das sie singt.
Er holt den Korb, aber auch auf dem sind jetzt Ameisen. Irgendwo im Garten muss sich ein riesiges Ameisenvolk angesiedelt haben. Weiter hinten, versteckt am Boden unter dem Gestrüpp, oder möglicherweise auf dem benachbarten Grundstück. Ameisenmachen vor nichts Halt, wenn sie auf Nahrungssuche sind, sie kennen keine Grenzen. Wagner erinnert sich, dass diese lästigen Tiere schon seinen Vater manchmal zur Verzweiflung gebracht haben. Lange Zeit merkt man nichts von ihnen, und dann tauchen sie schlagartig auf und verbreiten sich wie eine Epidemie. Sogar ins Haus dringen sie ein. Vater griff dann immer zu DDT, um sie zu bekämpfen. Vergiftete sie mit diesem weißen Puder, das heute verboten ist, weil es beim Menschen Krebs erregt.
Wagner stellt den Korb wieder ab und geht hinters Haus in die Hütte mit dem Gartenwerkzeug. Auf einem Regalbrett steht noch immer der alte DDT-Behälter , eine leicht angerostete Blechdose, die mit ihren kleinen Löchern an der Oberseite aussieht wie ein Staubzuckerstreuer. Wagner nimmt sie und schüttelt sie vorsichtig. Die Dose ist gut gefüllt, und in all den Jahren scheint der giftige Puder nicht verklumpt zu sein.
Mit der Dose in der Hand macht sich Wagner auf die Suche. Er braucht nicht lange, bis er entdeckt, was er befürchtet hat: eine Ameisenstraße, die aus der Wiese heraus quer über den schmalen zementierten Weg direkt zum Haus verläuft, und dann am Sockel ein paar Handbreit hinauf bis zu einem kaum sichtbaren Riss hinter abgeblättertem Verputz. Hier verschwinden die Ameisen in der Mauer.
Wagner bedeckt gut einen Meter der Ameisenstraße mit einer dicken Schicht DDT. Dann hockt er sich hin und beobachtet ein paar Minuten lang den Todeskampf der Tiere. Und denen, die dem tödlichen Pulver entkommen, verpasst er sofort eine Extradosis des weißen Gifts. Später wird er sich noch um die kümmern, die schon im Haus sind. Aber davor wird er wohl noch seine Mutter überreden müssen, ihm endlich die Schlüssel für die Zimmer zu geben, damit er wenigstens im Erdgeschoß nach den Ameisen suchen kann. Wer weiß,
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