Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
alles in den Korb. Nur die Thermoskanne und die Kaffeebecher nicht. Und auch nicht das Alufolienpaket. Das würde er später, wenn Christina gegangen wäre, in die Mülltonne werfen. Oder besser auch vergraben.
Er schenkte sich einen Becher Kaffee ein, und dann setzte er sich hin und betrachtete Christina. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Brust hob und senkte sich sanft. Eine Haarsträhne war ihr über die Stirn gefallen und bewegte sich bei jedem Atemzug. Was hinter dieser Stirn jetzt wohl vorging? Welche Bilder, welche Träume? Und ob er in ihnen auch vorkam? Er und der Garten und eine gute gemeinsame Zeit. Oder lauerten irgendwo schon wieder ihre bösen Erinnerungen und übermächtigen Ängste? Um das bisschen Hoffnung auf Glück zu zerfressen wie hässliche Ameisen? Lasst sie doch in Ruhe. Gebt ihr eine Chance. Gebt uns eine Chance.
Chris, Chris, Chris.
Es war gut, dass sie schlief. Es war gut, dass sie keine Fragen stellte. Es war gut, dass sie nicht reden mussten. Über das, was auf dem Grundstück nebenan vor sich ging. Und über die Mädchen.
Chris, Chris, Chris.
Er hätte jetzt ewig nur so dasitzen und sie anschauen mögen. Hoffentlich würde es nicht schon wieder zu regnen anfangen. Hinter dem Haus waren ein paar Wolken aufgezogen. Aber die konnten sich genau so gut einfach wieder in Nichts auflösen.
Plötzlich schreckte Christina auf.
„Du lieber Gott! Wie spät?“
„Halb fünf. Wieso?“
„Was? Halb fünf? Hab ich geschlafen?“ Christina sprang auf.
„Höchste Zeit. Ich muss wieder zurück. Wir haben heute den Gastgarten geöffnet. Bei dem Wetter sind sicher schon die ersten Gäste da.“
„Nicht einmal mehr einen Kaffee?“
„Sorry. Ich muss wirklich.“
Sie liefen zum Gartentor. Und während Christina ihr Fahrradschloss aufsperrte, sagte sie: „Also dann bis heute Abend, ja? So um elf?“
„Bei dir oder bei mir?“ sagte Wagner. Schön, wieder das alte Spiel. „Bei mir“, sagte Christina und lächelte Wagner verheißungsvoll an. „Übrigens, meine Tage sind vorbei. Alles klar, Klaus?“ Sie warf Wagner eine Kusshand zu, stieg aufs Rad und raste los.
Wagner blickte Christina nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. Als er sich umdrehte, sah er ein kleines Mädchen auf einem roten Kinderfahrrad die Straße herauf fahren. Er hatte dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen. Doch als es langsam an ihm vorbeifuhr, wandte es ihm sein Gesicht zu und sagte leise „hallo“.
In diesem Augenblick war Wagner mit einem Schlag völlig gleichgültig, welche Hoffnungen ihm Christina gerade eben gemacht hatte. Er hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen würde sich aufblähen wie eine heiße Schlammblase und wieder zusammenfallen und ihn nach unten saugen.
Dieses Gesicht!
Nein, er hatte das Mädchen noch nie gesehen. Aber er wusste, wem dieses Gesicht gehörte. Er kannte dieses Gesicht. Dieses blasse Gesicht mit den großen, dunklen Augen. Dieses Gesicht mit dem Feuermal auf der Wange. Es war das Gesicht seiner toten kleinen Schwester. Es war Julias Gesicht.
Dieses Mädchen war Julia.
J etzt hatten sie ihr also den Strom abgedreht.
Sie hatte Teewasser aufgesetzt, aber nach einer Viertelstunde hatte es noch immer nicht gekocht. Da hatte sie ihre Hand auf die Herdplatte gelegt und bemerkt, dass die Platte kalt war. Und auch die anderen Kochplatten und das Backrohr funktionierten nicht, da konnte sie an den Schaltern drehen, soviel sie wollte. Genauso das Licht. Im ganzen Haus. Keine einzige Lampe ließ sich einschalten. Der Kühlschrank war auch schon abgetaut. Sie hatten ihr also tatsächlich den Strom abgedreht.
Ihr Sohn und seine Komplizin versuchten wohl alles, um sie aus dem Haus zu vertreiben. Jedes Mittel war ihnen recht. Nicht einmal vor Handgreiflichkeiten oder Diebstahl scheuten sie zurück. Der Schmuck war schon weg, genauso wie Julias Geld. Erst neulich wollte sie sogar ihr eigener Sohn in einem Wutanfall beinahe umbringen. Und jetzt hatten sich die beiden die nächste Gemeinheit einfallen lassen.
Doch sie würde auch das aushalten. Keine einzige Klage würde aus ihrem Mund kommen. Ihr Sohn wartete doch nur darauf, sie als hilflose Person hinstellen zu können. Und dann hieße es: Raus aus dem Haus und ab ins Altenheim.
Ohne Strom leben zu müssen, das war doch wirklich nicht schlimm. Das hatte sie schon einmal durchgestanden. Im Krieg, als die Amerikaner die Stadt bombardiert hatten. Fünf Tage lang war sie damals
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