Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
Zementboden. Wagner steigt zitternd die paar Stufen hinunter, setzt sich auf die Treppe und greift nach Lampe. Er zögert. Er atmet tief durch. Trotz des bestialischen Gestanks. Und dann richtet er das Licht auf das, was er vorhin gesehen hat.
Am Fuß der Kellertreppe liegen zwei tote Mädchen. Wagner weiß sofort: es sind Sandra und Daniela.
Er schaltet die Taschenlampe aus. Es nützt nichts. Auch wenn er sie nicht sehen kann, liegen die toten Mädchen hier zu seinen Füßen. Nur einen Meter von ihm entfernt. Sie verschwinden nicht. Sie sind wirklich da. Er riecht ihre toten Körper.
Er muss sie auch nicht berühren, muss sie nicht untersuchen, muss nicht nach ihrem Puls tasten, um festzustellen, dass sie tot sind. Es genügt, wenn er wieder den Strahl seiner Taschenlampe über sie gleiten lässt. Über ihre unnatürlich verrenkten Körper, die wie kaputte Puppen aussehen. Über die eingetrockneten Blutlachen unter ihren Köpfen. Über die zerbrochenen Likörflaschen am Boden. Über die starren, blicklosen Augen. Und über die Ameisen. Die Tausenden von Ameisen, die von den Toten Besitz ergriffen haben. Von ihren Gesichtern, ihren Nasenlöchern, ihren aufgerissenen Mündern. Ein dicker, dunkler, krabbelnder Strom. Es sieht so aus, als würden die Mädchen eine Flut aus schwarzen Ameisen erbrechen.
Wagner fühlt nichts. Nicht einmal sich selber. Ihm ist, als hätte er sich aufgelöst. Kein Körper. Kein Gedanke. Nicht einmal Ekel. Absolut nichts. Er schaltet die Taschenlampe ein. Er schaltet die Taschenlampe aus. Schaltet sie ein. Schaltet sie aus. Immer wieder.Die toten Mädchen. Die Ameisen. Der Verwesungsgeruch. Die Dunkelheit. Die Stille. Sonst nichts.
Eine Stunde lang. Oder länger.
Stillstand.
Auch die Welt ist verschwunden.
Nichts.
Bis Wagners Mutter auf einmal wieder zu singen anfängt.
Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde, vor meinem Vaterhaus steht eine Bank …
Wagner springt auf, rennt die Treppe hinauf und in die Küche. Er packt seine Mutter am Arm, zerrt sie hinaus vor die Kellertür und leuchtet hinunter auf die toten Mädchen.
Erklär mir das, bitte, sagt er. Ganz leise, weil ihm die Stimme versagt. Bitte, erklär mir das. Und sag mir, dass das nicht wahr ist.
Doch was er jetzt zu hören bekommt, ist wahr. Auch wenn diese Wahrheit nur eine hässliche Chimäre aus Irrsinn und Wirklichkeit ist. Es ist die Wahrheit seiner Mutter. Die Wahrheit im Kleid der Angst. Eine unbegreifliche Wahrheit. Und je mehr Wagner von dieser Wahrheit erfährt, desto unbegreiflicher wird sie für ihn. Und er wünscht sich, er müsste sie nicht hören.
Nein, er will nicht hören, was seine Mutter sagt, was sie hervorstößt in geflüsterten, abgerissenen Sätzen. Dass er doch nicht so tun soll, als wüsste er nicht, wer diese zwei besoffenen Weiber sind, die da unten im Keller ihren Rausch ausschlafen. Dass er ihr diese Weiber ja selber ins Haus geschickt hat, damit die sie quälen sollen, bis sie nachgibt und aus dem Haus auszieht. Dass sie ganz genau weiß, dass er sie in ein Pflegeheim abschieben will und dass er mit diesen Pflegerinnen unter einer Decke steckt, diesen Weibern, die sie fertig machen sollen, und wenn sie sich wehren würde oder beklagen, dann würde man sie erst recht als verblödete alte Frau hinstellen, die sich alles nur einbildet und schon allein deshalb ins Heim gehört.
Nein, er kann es nicht fassen, dass die Mädchen, diese perversenPflegerinnen, wie seine Mutter meint, vor Tagen einfach ins Haus gekommen sind. Dass sie seine Mutter eine blöde alte Sau genannt haben, die weg gehört, wie alle alten Leute. Dass die Mädchen ihr in den Tee gespuckt haben, kann er nicht fassen, und dass sie ihr auf den Kopf geschlagen haben, als sie sich geweigert hat, den Tee mit der Spucke zu trinken, an den Haaren gezogen und auf den Kopf geschlagen, zuerst mit den Fäusten und dann mit dem Kruzifix, das sie von der Wand gerissen haben, auf den Kopf geschlagen, bis sie geblutet hat. Und dass sie gesagt haben, dass das erst der Anfang ist, und dass sie schon einmal beten soll, weil sie jetzt mit der Hölle Bekanntschaft machen wird. Und am allerwenigsten kann er fassen, dass seine Mutter alles ertragen hat, mit dem Vorsatz, keiner Menschenseele davon auch nur ein einziges Wort zu sagen, weil nichts schrecklicher ist als ihre Angst. Ihre Angst vor ihm. Ihre Angst davor, an einem ebenso furchtbaren Ort zu enden wie ihre Mutter.
Er will sich auch nicht unwillkürlich fragen, was in den Köpfen von
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