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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zurückzog und die schwere Glastür aufschob.
    Eine kalte, salzige Bö wehte ihm entgegen. Er hörte das Knarren des riesigen Bootes, und das schwache Mondlicht erschien ihm düster und entschieden unangenehm. Hochseetüchtig, hatten sie gesagt. Er glaubte es sofort, als er das Boot betrachtete. Entdeckungsreisende hatten die Weltmeere mit viel kleineren Schiffen besegelt. Und wieder erschien es ihm grotesk, ängstigte ihn die Unverhältnismäßigkeit seiner Größe.
    Er trat hinaus auf die Pier, und der Kragen wehte ihm gegen die Wange. Er näherte sich der Kante. Das Wasser unten war vollkommen schwarz. Er konnte es riechen, roch den dumpfigen Geruch der unvermeidlichen toten Dinge im Meer.
    Das hier war das Boot, und dies war der Augenblick. Also hinauf auf dieses Ding mit seinen Bullaugen und den schlüpfrig aussehenden Decksplanken, das sich sanft wiegend an den schwarzen Autoreifen rieb, die an die Längsseite der Pier genagelt waren. Es gefiel ihm nicht besonders; das stand fest. Und er war verdammt froh, daß er seine Handschuhe anhatte.
    Er ging an dem Ding entlang, bis er am Ende angekommen war. Hinter dem großen, klobigen Ruderhaus packte er die Reling, sprang seitwärts hoch – einen Augenblick erschrocken, weil das Boot sich unter seinem Gewicht neigte -, und schwang sich so schnell wie möglich auf das Achterdeck hinauf.
    Sie folgte ihm.
    Er fand es gräßlich, wie der Boden sich unter ihm bewegte. Gott, wie konnte man es auf einem solchen Boot nur aushaken! Aber es lag jetzt stabil genug im Wasser. Die Reling ringsherum war hoch genug, um ihm ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Sie bot sogar ein bißchen Schutz vor dem Wind.
    Er spähte kurz durch die Glastür des Ruderhauses. Blinkende Zifferblätter, Armaturen. Hätte ebensogut das Cockpit eines Düsenflugzeugs sein können. Vielleicht führte eine Treppe dort drinnen in die Kabinen unter Deck.
    Na, das ging ihn nichts an. Auf das Deck kam es an, denn hier draußen hatte er nach seiner Rettung gelegen.
    Der Wind, der vom Wasser hereinwehte, war ein Tosen in seinen Ohren. Er drehte sich um und sah sie an. Ihr Gesicht war vollkommen dunkel vor den Lichtern in der Ferne. Sie nahm die Hand aus der Tasche und deutete vor sich auf die Planken.
    »Genau hier«, sagte sie.
    »Als ich die Augen aufschlug? Als ich zum erstenmal wieder atmete?«
    Sie nickte.
    Er kniete nieder. Die Bewegungen des Bootes fühlten sich jetzt langsam an, behutsam, und das einzige Geräusch war ein leises Knarren, das von nirgendwoher zu kommen schien. Er nahm die Handschuhe ab, stopfte sie in die Tasche und streckte die Finger.
    Dann legte er sie auf die Planken. Kalt, naß. Der Blitz kam wie immer aus dem Nichts und trennte ihn vom Hier und Jetzt. Aber nicht seine Rettung sah er, sondern Spuren und Fetzen von anderen Leuten, von Leuten, die miteinander sprachen, sich bewegten – Dr. Mayfair, dann der verhaßte Tote wieder, und bei ihnen eine hübsche ältere Frau, geliebt, eine Frau namens Ellie – in immer tiefere Schichten führten ihn seine Hände, bis die Stimmen zu einem einzigen Rauschen zusammenfanden.
    Er fiel auf die Knie. Ihm wurde schwindlig, aber er wollte nicht aufhören, die Planken zu berühren. Er tastete umher wie ein Blinder.
    »Gott, gib mir den Augenblick, wo ich das erstemal wieder atmete«, wisperte er. Aber ebensogut hätte er dicke Bände durchblättern können, um einen einzelnen Satz zu finden. Graham, Ellie, Stimmen, die sich hoben, gegeneinander krachten. Er weigerte sich, in seinem Kopf nach Worten zu suchen für das, was er sah; er lehnte es ab. »Gebt mir diesen Augenblick.« Und er legte sich flach auf das Deck und spürte die rauhen Planken an der Wange.
    Ganz plötzlich schien der Augenblick um ihn herum aufzubersten, als habe das Holz Feuer gefangen. Es war kälter, und der Wind wehte heftiger. Das Boot wurde hin und her geworfen. Sie beugte sich über ihn, und er sah sich daliegen, einen Toten mit weißem, nassem Gesicht; sie hämmerte ihm auf die Brust. »Aufwachen, verdammt, aufwachen!«
    Seine Augen öffneten sich. Ja, was ich gesehen habe, sie, Rowan, ja. Ich lebe, ich bin hier! Rowan, so vieles… Der Schmerz in seiner Brust war unerträglich gewesen. Er fühlte nicht einmal Leben in Händen und Beinen. War das seine Hand, die sich da hob und nach der ihren griff?
    Muß es erklären, das Ganze, bevor…
    Bevor was? Er versuchte es festzuhalten, tiefer einzudringen. Bevor was? Aber da war nichts als ihr blasses, ovales Gesicht, wie er

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