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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Schlimmste war: Wenn er einmal anfinge, würde er nicht mehr aufhören können. »Die Hände, wissen Sie. Ich sehe Dinge, wenn ich etwas berühre, aber die Visionen…«
    »Erzählen Sie mir von den Visionen.«
    »Ich weiß, was Sie denken. Sie sind Neurologin. Sie denken, es ist eine zerebrale Dystönie. Irgend so ein Quatsch.«
    »Nein, das denke ich nicht.«
    Sie fuhr jetzt schneller. Die große, häßliche Silhouette eines Lastwagens tauchte vor ihnen auf, die Schlußlichter funkelten wie Leuchtfeuer. Sie blieb in sicherem Abstand dahinter zurück, gab dann Gas und beschleunigte auf fünfundfünfzig, um ihn nicht zu verlieren.
    Er trank das restliche Bier in drei schnellen Schlucken, stopfte die leere Dose in die Tüte und zog dann seinen Handschuh aus. Sie hatten die Brücke hinter sich, und wie durch Zauberei war auch der Nebel fort, wie es sooft geschah in dieser Gegend. Der klare, strahlende Himmel erstaunte ihn. Die dunklen Berge erhoben sich wie Schultern und trieben sie voran, als sie den Waldo Grade hinauffuhren.
    Er schaute auf seine Hand. Sie sah unappetitlich feucht und runzlig aus. Als er die Finger aneinander rieb, durchströmte ihn ein unbestimmt angenehmes Gefühl.
    Sie glitten jetzt mit sechzig Meilen pro Stunde dahin. Er griff nach Dr. Mayfairs Hand, die auf dem Schaltknopf ruhte, die langen, schmalen Finger entspannt.
    Sie machte keine Anstalten, ihm Widerstand zu leisten. Sie sah ihn an und schaute dann wieder auf den Verkehr, als sie in den Tunnel hineinfuhren. Er nahm ihre Hand vom Schalthebel und preßte seinen Daumen in ihre nackte Handfläche.
    Ein sanftes Wispern umhüllte ihn, und sein Blick verschwamm. Es war, als habe ihr Körper sich aufgelöst und umgebe ihn nun, eine wirbelnde Wolke von Partikeln. Rowan. Einen Augenblick lang befürchtete er, sie würden von der Straße abkommen. Aber nicht sie war es, die dies fühlte. Er war es, er fühlte ihre warme, feuchte Hand und diesen pochenden Herzschlag darin und dieses Gefühl, im Kern eines weiten, luftigen Seins zu schweben, das ihn umschlossen hielt und nun überall liebkoste wie fallender Schnee. Die erotische Erregung war so intensiv, daß er nichts tun konnte, um sie zu dämpfen.
    Dann, in einem alles verbrennenden Blitz, war er in einer Küche, einer funkelnden, modernen Küche mit blinkenden Geräten und Armaturen, und ein Mann lag sterbend auf dem Boden. Ein Streit, Geschrei – aber das war etwas, das Augenblicke zuvor passiert war. Die Zeitintervalle schoben sich übereinander, krachten ineinander. Es gab kein Oben und kein Unten, kein Links und kein Rechts. Michael war mitten in allem. Rowan kniete mit ihrem Stethoskop neben dem sterbenden Mann. Hasse dich. Sie schloß die Augen, riß sich das Stethoskop aus den Ohren. Konnte ihr Glück nicht fassen: Er starb.
    Dann brach alles ab. Der Verkehr wurde langsamer. Sie hatte ihre Hand weggenommen und schaltete mit einer harten, effizienten Bewegung.
    »Was haben Sie gesehen?« fragte sie. Ihr Gesicht war wundersam glatt in der Flut der vorüberziehenden Lichter.
    »Wissen Sie es denn nicht?« sagte er. »Gott, ich wollte, diese Fähigkeit würde verschwinden. Ich wollte, ich hätte sie nie gespürt. Ich will das alles von niemandem wissen.«
    »Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben.«
    »Er starb auf dem Fußboden. Darüber waren Sie froh. Er ließ sich nicht mehr von ihr scheiden. Sie erfuhr nie, daß er es vorgehabt hatte. Er war einssiebenundachtzig groß, geboren in San Rafael, Kalifornien, und das hier war sein Auto.« Woher kam das nur alles? Und er hätte immer weiterreden können; er wußte seit dem ersten Abend, daß er weitergehen konnte, wenn er nur dazu bereit war. »Das habe ich gesehen. Ist Ihnen das wichtig? Wollen Sie, daß ich darüber rede? Warum wollten Sie, daß ich es sehe – danach sollte ich Sie eigentlich fragen. Was nutzt es, wenn ich weiß, daß es Ihre Küche war und daß Sie, als Sie aus dem Krankenhaus zurück kamen, wo sie ihn aufgenommen hatten, was völlig blödsinnig war, weil er bei der Einlieferung schon tot gewesen war – daß Sie sich da an den Tisch setzten und aßen, was er gekocht hatte, bevor er starb?«
    Schweigen. Dann: »Ich hatte Hunger.« Sie flüsterte.
    Er schüttelte sich mit dem ganzen Körper. Dann riß er ein neues Bier auf. Das köstliche Malzaroma erfüllte den Wagen.
    »Und jetzt mögen Sie mich nicht mehr besonders, nicht?« fragte er.
    Sie antwortete nicht. Sie starrte stumm auf den Verkehr.
    Ihm war schwindlig von den

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