Hexenstunde
gewesen, nicht wahr? Eine höchst bedeutungsvolle Zahl. Er lehnte sich an die Glastür, drückte die Stirn an die Scheibe.
»Ich will nicht, daß Sie gehen«, sagte er, »aber ich muß. Sehen Sie, sie erwarten wirklich etwas von mir. Und sie haben mir gesagt, was es ist, und ich muß tun, was ich kann, und ich weiß, daß ich dazu nach Hause fahren muß.«
Schweigen.
»Es war schön von Ihnen, daß Sie mich hergebracht haben.«
Schweigen. Dann: »Vielleicht…«
»Vielleicht was?« Er drehte sich um.
Sie stand wieder mit dem Rücken zu den Lichtern. Die Jacke hatte sie ausgezogen. Sie sah eckig und anmutig aus in ihrem großen, dicken Pullover, mit ihren langen Beinen, den prächtigen Wangenknochen und den feinen, schmalen Handgelenken.
»Könnte es sein, daß Sie es vergessen sollten?« fragte sie.
Darauf war er noch nicht gekommen. Im ersten Moment antwortete er nicht. »Glauben Sie mir, was die Visionen angeht?« fragte er dann. »Ich meine, haben Sie gelesen, was in der Zeitung stand? Es hat gestimmt, dieser Teil. Ich meine, die Zeitungen haben mich töricht dargestellt, wie einen Verrückten. Aber der springende Punkt ist, daß so viel dahinter steckte, so viel, und…«
Er wünschte, er könnte ihr Gesicht ein bißchen besser sehen.
»Ich glaube Ihnen«, sagte sie schlicht. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Es hat immer etwas Beängstigendes, wenn eine Sache auf Messers Schneide stand und ein scheinbarer Zufall eine so große Wirkung hat. Wir glauben dann gern, daß es uns so bestimmt war…«
»Es war so bestimmt!«
»Ich wollte sagen, daß es diesmal wirklich knapp war, denn es war fast dunkel, als ich Sie da draußen entdeckte. Fünf Minuten später, und ich hätte Sie unmöglich noch sehen können.«
»Sie suchen nach Erklärungen, und das ist sehr nett von Ihnen; ich weiß das zu schätzen, wirklich. Aber, wissen Sie, das, was ich noch in Erinnerung habe – die Impression, meine ich -, ist so stark, daß nichts Derartiges zur Erklärung nötig ist. Ich weiß, daß Sie da waren, Dr. Mayfair. Und…«
»Was ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Nur einer von diesen verrückten Augenblicken, in denen es ist, als ob ich mich erinnerte – aber dann ist es doch wieder weg. Da draußen auf dem Boot habe ich’s auch erlebt. Das Wissen: jawohl, wenn ich jetzt die Augen öffne, weiß ich, was passiert ist… und dann ist es wieder weg…«
»Das Wort, das Sie gesagt haben, das Murmeln…«
»Ich hab’s nicht mitbekommen. Ich habe mich kein Wort sprechen sehen. Aber ich sage Ihnen etwas. Ich glaube, ich kannte Ihren Namen da draußen. Ich wußte, wer Sie waren.«
Schweigen.
»Aber ich bin nicht sicher.« Ratlos drehte er sich um. Was tat er nur? Wo war sein Koffer – er mußte jetzt wirklich los, aber er war so müde, und er wollte nicht gehen.
»Ich will nicht, daß Sie gehen«, sagte sie noch einmal.
»Im Ernst? Ich könnte ein Weilchen bleiben?« Er sah sie an, den dunklen Schatten ihrer großen, schlanken Gestalt vor dem aus der Ferne matt erleuchteten Glas. »Oh, ich wünschte, ich hätte Sie vor all dem kennengelernt«, sagte er. »Ich wünschte… ich würde so gern… ich meine, es ist so albern, aber Sie sind sehr…«
Er tat einen Schritt vorwärts, um sie besser zu sehen. Ihre Augen wurden erkennbar; für tiefliegende Augen schienen sie sehr groß und weit zu sein, und ihr Mund war so großzügig und sanft. Aber im Näherkommen erlebte er ein seltsames Trugbild. Ihr Gesicht wirkte im matten Schimmer von jenseits der Glaswände absolut bedrohlich und bösartig, wie es unter dem glatten blonden Haar zu ihm heraufspähte; es war ein Ausdruck von grenzenlosem Haß.
Er blieb stehen. Es mußte eine Täuschung sein. Sie stand da, völlig regungslos, und entweder wußte sie nichts von dem Grauen, das ihn plötzlich erfüllte, oder es kümmerte sie nicht.
Dann kam sie auf ihn zu, trat in den gedämpften Lichtschein, der aus der Tür an der Nordseite herausfiel.
Wie hübsch und wie traurig sie aussah! Wie hatte er sich nur so täuschen können? Sie war den Tränen nahe. Ja, es war einfach furchtbar, die Trauer in ihrem Gesicht zu sehen, die plötzliche, lautlose Begierde, das Überfließen der Gefühle.
»Was ist?« flüsterte er und breitete die Arme aus. Und sofort schmiegte sie sich sanft an ihn. Ihre Brüste lagen groß und weich an seiner Brust. Er drückte sie an sich, umschlang sie und fuhr ihr mit den behandschuhten Fingern von unten herauf durchs Haar. »Was ist?«
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