Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit
Seltsames geschah: Er erkannte, dass die Schriftzeichen auf den Seiten bizarr und sonderbar aussahen, kaum wie eine menschliche Schrift, sondern fast wie das Gekrakel eines Kindes, doch auch wieder auf schwer in Worte zu fassende Art regelmäßig, aber es gelang ihm nicht, die Zeilen genauer zu sehen – jedesmal, wenn er versuchte sich auf eine der Hieroglyphen zu konzentrieren, entzogen sie sich ihm auf geheimnisvolle Weise.
Mühsam löste er seinen Blick von dem Buch und sah den Toten an. Tremayn unterdrückte im letzten Augenblick einen Schrei.
Die Augen des Fremden waren weit geöffnet. Er blinzelte noch immer nicht und jetzt, als Tremayn nahe genug heran war, erkannte er, dass der graue Schimmer auf seinen Zügen nicht die Zeichen einer Krankheit oder Wirkung des schlechten Lichtes waren, sondern Staub. Staub, der sogar auf seinen Pupillen lag.
»Was …«, keuchte Gordon.
Er sprach nicht weiter. Der Fremde bewegte sich. Staub rieselte aus seinen Kleidern, und Gordon sah, dass sich zwischen seinen Fingern haarfeine Spinnweben spannten, die jetzt, als er sie bewegte, zerrissen. Langsam, ganz langsam kippte der Oberkörper des Mannes nach vorne, hing für einen kurzen, schrecklichen Moment reglos in der Schwebe, als würde er von unsichtbaren Fäden gehalten, und schlug schließlich auf dem Schreibtisch auf. Das Geräusch hörte sich an, als stürze irgendwo ein Balken zu Boden.
»Mein … mein Gott«, stammelte Tremayn. »Was … was bedeutet das? Was geht hier vor? Ich … ich will weg!«
»Einen Moment noch«, sagte Gordon. Rasch hob er die Hand und hielt Tremayn am Arm zurück. »Hilf mir.«
Tremayn keuchte. Seine Augen waren vor Furcht geweitet. »Was … was hast du vor?«, fragte er.
Gordon deutete auf das Buch, das aufgeschlagen vor dem Toten lag. Der Mann hatte den Band im Zusammenbrechen halbwegs unter sich begraben; seine rechte Hand lag, zu einer Klaue verkrümmt, auf der aufgeschlagenen Seite. »Ich will das Ding mitnehmen«, sagte er. »Hilf mir.«
Tremayn prallte mit einer erschrockenen Bewegung zurück. »Du bist verrückt!«, entfuhr es ihm. »Ich rühre den Kerl nicht an!«
Gordon musterte ihn einen Herzschlag lang wütend. »Hast du Angst, dass er dich beißt?«, fragte er spitz. Aber sein Hohn prallte von Tremayn ab und er schüttelte nur stur den Kopf.
»Ich rühre den Kerl nicht an«, sagte er entschieden. »Du kannst von mir denken, was du willst, aber ich fasse ihn nicht an.«
Gordon schluckte einen Fluch herunter, drängte das Gefühl von Widerwillen und Abscheu, das sich in ihm breitzumachen begann, zurück, und versuchte den Kopf des Toten anzuheben. Der Mann war erstaunlich schwer und seine Haut fühlte sich kalt und hart wie Holz an. Aber es ging.
»Dann nimm wenigstens das Buch«, sagte er. »Ich halte ihn solange fest.«
Tremayn streckte gehorsam die Hand nach dem Buch aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. »Was willst du überhaupt damit?«, fragte er.
»Verdammt, das Ding ist uralt«, schnappte Gordon gereizt. »Es kann ein Vermögen wert sein. Und nun mach schon!«
Tremayn schluckte, nervös und ein paarmal rasch hintereinander, überwand sich aber dann doch und zog das Buch mit einem raschen Ruck unter dem Toten hervor. Die erstarrte Hand der Leiche schien sich für einen Moment daran festzuklammern, als versuche sie noch jetzt, es zu beschützen. Ihre Fingernägel glitten mit einem Geräusch über die Seiten, als kratze irgendwo Stahl über Glas. Gordon schauderte. Hastig ließ er den Toten los und sprang rücklings einen Schritt zurück.
»Weg jetzt«, sagte er. »Schnell.«
Gordon nahm das Buch, klemmte es sich unter den Arm und rannte zur Tür, ohne noch ein einziges Wort zu verlieren. Auch Tremayn lief zum Ausgang, blieb aber noch einmal stehen und sah zu dem Toten zurück. Er wusste, dass er den Mann schon irgendwo gesehen hatte. Seine Züge waren erstarrt und auf grausame Weise verzerrt gewesen, und doch war etwas Bekanntes und Vertrautes in ihnen gewesen …
Er vertrieb den Gedanken, fuhr herum und stürzte hinter Gordon die Treppe hinab.
Wäre er noch einen Moment länger geblieben, hätte er vielleicht sehen können, wie sich der Tote langsam, mit steifen, puppenhaften Bewegungen wieder aufsetzte. Und wäre er vorher um den Schreibtisch herumgetreten, dann hätte er vielleicht gesehen, dass er weder tot, noch wirklich ein Mensch war. Wenigstens nicht mehr vom Gürtel an abwärts.
Bis zum Nabel hinab war sein Körper vollkommen menschlich.
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