Hexer-Edition 09: Dagon - Gott aus der Tiefe
und die Metallhandschuhe wieder überzustreifen. Die Chance war zwar mehr als dürftig, aber mit etwas Glück konnte ich darauf setzen, mit Howard oder Rowlf verwechselt zu werden, die ja schließlich auch ihre Anzüge an Bord des Schiffes trugen. Die Unbequemlichkeit, die Zentnerlast der Tauchermontur bis in Nemos Kabine hinauf zu schleppen, musste ich in Kauf nehmen.
Der Gang war verlassen, als ich die Tür öffnete, aber das kam mir nur gelegen. Wahrscheinlich war jede Hand an Bord der NAUTILUS mit Reparaturarbeiten beschäftigt, und wenn ich sehr viel Glück hatte, würde ich das Schiff vielleicht sogar wieder verlassen können, ohne überhaupt gesehen zu werden. So schnell es mir in der schweren Taucherausrüstung möglich war, eilte ich durch den Gang, schlich die gewendelte Metalltreppe nach oben und betrat Nemos Privatkabine. Sie war leer, wie ich gehofft hatte, und das Glück schien mir sogar noch holder zu sein, als ich zu träumen gewagt hatte, denn ich fand das Bündel mit meinen Kleidern praktisch auf Anhieb.
Andaras Amulett lag obenauf.
Ich stutzte. Ich war ziemlich sicher, das vermeintlich nutzlose Schmuckstück in die Tasche gesteckt und nicht wieder hervorgezogen zu haben. Natürlich konnte es sein, dass Nemo oder Howard es gefunden und begutachtet hatten, aber wenn, warum hatten sie es dann nicht zurückgesteckt oder gleich ganz mitgenommen, sollten sie ihm irgendeine Bedeutung zugemessen haben?
Und plötzlich fiel mir noch mehr auf. Ich hatte bisher nicht sehr gründlich auf meine Umgebung geachtet, aber nach allem, was ich über Nemo wusste, schien er ein sehr ordentlicher Mensch zu sein.
Seine Kabine war ein einziges Chaos.
Die Schubladen der Schränke waren zum Teil geöffnet worden, ihr Inhalt über den Boden verstreut, selbst das Bettzeug herausgerissen und zerfetzt. Jemand hatte die Kabine durchsucht.
Verwirrt nahm ich das Amulett auf, schob es in eine Tasche meines Anzuges und richtete mich wieder auf. Was mochte hier geschehen sein? Welchen Grund sollte Nemo oder einer seiner Leute haben, die Kabine auf diese Weise zu durchsuchen?
Ich beschloss, die Lösung dieses weiteren Rätsels auf später zu verschieben, wandte mich um und verließ den Raum wieder. Erneut fiel mir die Stille auf, die von der NAUTILUS Besitz ergriffen hatte. Das dumpfe Dröhnen der Maschinen, das mich bisher wie die Lebensäußerungen des Schiffes begleitet hatte, war verstummt.
Aber das war es nicht allein.
Das Schiff war still. Vollkommen still!
Abrupt blieb ich stehen, blickte einen Moment unentschlossen zum unteren Ende der Treppe hinab – und drehte mich noch einmal um, um zum Salon des Schiffes zu gehen. Meine Schritte dröhnten unheimlich in dem niedrigen Metallkorridor; das Geräusch schien die Stille zu betonen, statt sie zu vertreiben; und das leise Scharren, mit dem das halbrunde Schott der Zentrale vor mir aufglitt, klang wie ein kreischender Schrei in meinen Ohren.
Der Salon war leer.
Und er bot ein ebenso chaotisches Bild wie Nemos Kabine.
Es waren nicht nur die Spuren der Reparaturarbeiten, die ich sah. Teile der Einrichtung waren zertrümmert worden, auf dem Boden lagen zerbrochenes Glas und Stofffetzen und die Reste zertrümmerter Möbel.
Und direkt vor dem großen Aussichtsfenster stand Dagon.
Jede Spur von Freundlichkeit war aus seinem Fischgesicht gewichen. Sein Blick war kalt wie Eis, als er mich ansah.
»Du warst schnell«, sagte er anerkennend. »Beinahe hätten wir es nicht geschafft.«
Ich schwieg. Das Gefühl, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen zu haben, breitete sich in mir aus. »Also … hast du doch gelogen«, sagte ich mühsam.
Dagon lächelte geringschätzig. »Nein«, sagte er. »Ich weiß, dass es sinnlos wäre dich belügen zu wollen. Ich habe … nun sagen wir, einen Teil der Wahrheit weggelassen.« Er trat auf mich zu und streckte die Hand aus. »Du hast das Amulett?«
Ich tat so, als hätte ich seine Frage gar nicht gehört. »Wo ist Nemo?«, fragte ich. »Und seine Männer? Wo sind Rowlf und Howard?«
»An einem sicheren Ort«, antwortete Dagon. »Du wirst sie wiedersehen, sobald du getan hast, was ich verlange. Du hast nicht wirklich erwartet, dass ich allein deinem Wort vertraue, oder?«
Ich antwortete nicht, aber seine Worte schienen wie böser Hohn hinter meiner Stirn widerzuhallen. Ich hatte ihm vertraut. Ich Narr.
»Was … soll ich tun?«, fragte ich stockend. Es fiel mir schwer, überhaupt zu reden. Ich hätte schreien mögen, aber es
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