Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
meinem Hemd und legte einen sehr kunstvollen Verband darüber.
Ich dankte ihm mit einem wortlosen Kopfnicken. Zum ersten Mal, seit ich Madur begegnet war, lächelte er. Wir gingen weiter.
Der Stollen, durch den Madur mich führte, war so niedrig, dass wir auf Händen und Knien kriechen mussten und Sill mehr zwischen uns schleiften als trugen. Es folgte eine etwas höhere, stark abschüssige Höhle, dann ein weiterer Stollen, schließlich eine roh in den Fels geschlagene Treppe, an deren Ende ein Fleck hellgrünen Lichts glomm. Ich hatte mittlerweile eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie Madurs Welt aussehen mochte. Wahrscheinlich handelte es sich schlichtweg um eine gewaltige, unter dem Meeresboden gelegene Höhle. Früher – sehr viel früher, wahrscheinlich vor Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren, bedachte man die Tatsache, dass Madurs Volk jegliche Erinnerung an die übrige Welt vergessen hatte – hatte sie sicher einmal an der Meeresoberfläche gelegen, denn es war schlichtweg unvorstellbar, dass sich eine so komplizierte Lebensform wie ein Mensch hier unten ganz zufällig noch einmal gebildet hatte. Dann musste etwas geschehen sein; irgendeine Katastrophe, die die Insel samt der riesigen Höhle und ihren Bewohnern hatte versinken lassen. Eine Laune des Schicksales hatte wohl den Sauerstoff bewahrt. Trotzdem musste die Katastrophe entsetzlich gewesen sein. Ich vermutete, dass nur sehr wenige der damaligen Bewohner diesen ganz privaten Weltuntergang überlebt hatten. So betrachtet, war es nicht einmal ein Wunder, dass Madurs Leute alles vergessen hatten, was zuvor gewesen war.
So weit die Theorie.
Dann trat ich gebückt hinter Madur aus dem Berg und sah, was mich wirklich erwartete.
Es war das Bild aus meiner Vision. Tausend verschiedene Geräusche und hunderterlei Gerüche, ein ganzes Sammelsurium von grünen und braunen Farbtönen, grelles Licht und Wärme brandeten wie eine Sturmflut auf meine Sinne ein. Unwillkürlich blieb ich stehen, blinzelte, hob schützend die linke Hand vor die Augen und hätte um ein Haar Sill fallen gelassen.
Es war ganz genau das, was ich durch den Kristall gesehen hatte – der schier undurchdringliche Dschungel, über den nur hier und da die moosbewachsenen Spitzen gewaltiger, riffartiger Felsen hinausragten, in der Ferne ein verschwommener grauer Schatten, der einer der beiden Türme sein mochte, von denen Madur erzählt und die ich flüchtig gesehen hatte, das schwülwarme Flirren und Summen des Dschungels …
Und doch – Etwas war anders.
Es dauerte einen Moment, bis mir der Unterschied vollends bewusst wurde.
Es gab keinen Himmel.
Aber die gewaltige, tiefblau strahlende Kuppel hoch über dem Dschungel war auch nicht die Decke einer Höhle, wie ich erwartet hatte.
Es war Wasser.
»Was hast du, Robät?«, fragte Madur.
»Ich …« Ich suchte einen Moment nach einer passenden Antwort, schüttelte schließlich den Kopf und rettete mich in ein verlegenes Lächeln. »Nichts«, sagte ich ausweichend.
»Der Anblick überrascht dich«, stellte Madur fest. Er lächelte. »Entweder, Robät, du bist der beste Schauspieler, dem ich jemals begegnet bin – oder du kommst wirklich aus einer anderen Welt. Aber welche Rolle spielt das schon? Du bist unser Freund und das allein zählt.« Er wurde übergangslos ernst, drehte sich halb herum und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Dschungel hinab. Der Höhlenausgang, aus dem wir herausgetreten waren, befand sich in einer fast lotrecht aufsteigenden Wand, die sich mehr als hundert Yards weit über unsere Köpfe erhob. Vor uns lag ein sanft abfallender, mit kantigem Lavagestein übersäter Hang, keine zwanzig Schritte lang. Dahinter begann der Dschungel. Selbst aus dieser geringen Entfernung heraus sah er aus wie eine undurchdringliche, grün-blau-schwarz gefleckte Wand.
»Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er. »Dies hier ist Ancen-Gebiet. Sie suchen bestimmt nach uns.«
Ich antwortete nicht. Ich war viel zu verwirrt, um den Sinn seiner Worte wirklich zu begreifen. Meine Gedanken kreisten wie wild um den unmöglichen blauen Wasser- Himmel,der sich über der Welt der zwei Türme spannte. Es war unmöglich!, hämmerten meine Gedanken. Alle Magie der Welt konnte nicht so etwas fertig bringen!
Und doch sah ich es mit eigenen Augen …
Kurz bevor wir in den Dschungel eindrangen, blickte ich noch einmal zu der Felswand zurück, aus der wir hervorgetreten waren. Sie erhob sich gigantisch und finster bis
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