Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
Noch hatte ich mich nicht völlig von Meredas Mordversuch erholt und es fiel mir ungleich schwerer als gewöhnlich.
Mit unsichtbaren Fühlern tastete ich meine Umgebung ab, überwand die Enge meiner Kammer und schließlich des ganzen Conden-Turmes und suchte Kontakt zu Sills Bewusstsein. Ich wusste, dass ich es nicht schaffen konnte sie über diese Entfernung hinweg zu erreichen; nicht im Vollbesitz meiner Kräfte und erst recht nicht in meinem momentanen Zustand. Trotzdem versuchte ich es.
Schweiß perlte auf meiner Stirn, ohne dass ich es überhaupt wahrnahm. All meine Konzentration war auf die Leere jenseits des Turmes gerichtet. Es war der Schritt in eine fremde Welt, deren Kräfte ich mich bedienen, die ich aber niemals verstehen oder gar wirklich beherrschen konnte.
Und dann …
Es passierte so plötzlich, dass ich nicht einmal richtig mitbekam, was geschah. Mein tastender Geist traf auf irgendetwas. Für einen Sekundenbruchteil glaubte ich einen lautlosen Hilferuf Sills wahrzunehmen, dann spürte ich nur noch …
feuer, eine verzehrende glut, tausendmal heißer als die sonne, ein vorhang aus wabernder hitze, der sich über meine gedanken senkte und meinen schwachen widerstand hinwegfegte. Ein pulsierendes schwarzes herz, riesige blinde augen und klebrige spinnenfäden, die sich über die weit breiteten und sie verbrannten, und dunkelheit, allgegenwärtige zum leben erwachte finsternis, schwärze, schwärze, SCHWÄRZE!
»NEIN!!!«
Mit einem Aufschrei fuhr ich hoch und presste die Hände gegen die Schläfen. Ein entsetzlicher Schmerz schien mein Gehirn auseinander zu reißen. Ich bohrte die Fingernägel in meine Haut, bis ich warmes Blut an meinen Händen spürte.
Der neuerliche Schmerz riss mich in die Wirklichkeit zurück. Ich fühlte mich leer, innerlich ausgebrannt. Erinnerungen an Wahnsinn und Tod überfluteten mein Bewusstsein, doch ich kämpfte dagegen an und drängte die Wahnvorstellung zurück.
Die Tür wurde aufgerissen. Zwei, drei unklare Schemen stürzten auf mich zu. Kräftige Hände drückten mich auf das Bett zurück. Ich hörte Worte, ohne ihren Sinn zu begreifen. Jemand hielt mir eine Schale mit einer ekelhaft stinkenden Flüssigkeit an die Lippen. Ich schluckte, musste husten und hätte mich fast erbrochen, als etwas von dem Gesöff in meine Luftröhre gelangte, doch die beruhigende Wirkung des Trankes setzte beinahe augenblicklich ein.
»Sill«, flüsterte ich.
Meine Gedanken zerfaserten und ich spürte die Dunkelheit, die mich einhüllte, wie die Berührung einer großen, sanften Hand.
»Schafft ihn fort und verscharrt ihn irgendwo«, befahl Zengsu und deutete auf den leblosen Körper Tonglis. Sofort sprangen zwei Sree vor, um seinen Befehl auszuführen. Zufrieden trat Zengsu einen Schritt zur Seite, um ihnen Platz zu machen und blickte ihnen nach, bis sie die Höhle verlassen hatten.
Die anderen senkten die Köpfe und vermieden es ihn anzusehen. Nur der alte Uscham trotzte seinem Blick, auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel. Zengsu las keinen Respekt in seinen Augen, nur ungläubige Bestürzung und eine immer stärker aufkeimende Angst. Neue Freunde hatte er sich bestimmt nicht geschaffen, doch keiner der Sree-Häuptlinge würde es jetzt noch wagen, sich einem seiner Befehle zu widersetzen. Zudem würde es zwischen Xandiu und Yaome mit Sicherheit Streit um die Nachfolge Tonglis geben, was seine eigene Position weiter stärkte.
Das Gefühl der Macht berauschte Zengsu für einige Sekunden, doch er wusste, dass er nicht mehr als einen ersten – wenn auch wichtigen – Zwischensieg errungen hatte. Der weitaus schwerste Teil seiner Aufgabe lag noch vor ihm. Die Inguré würden sich durch derart einfache magische Tricks bestimmt nicht so leicht besiegen lassen.
»Geht jetzt«, befahl er. »Ich habe noch Vorbereitungen zu treffen und auch für euch wird es viel zu tun geben. Wir treffen uns morgen zur gleichen Zeit hier wieder. Dann werde ich euch meine weiteren Befehle mitteilen. Sorgt dafür, dass eure Krieger sich so gut wie möglich ausruhen können. Und …« Zengsu machte eine kurze Pause und deutete auf die Stelle, an der Tongli gelegen hatte, bevor er weitersprach. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. »Und denkt daran, wie es jedem Verräter ergeht!«
Die Sree-Häuptlinge verließen die Höhle. Ihre Haltung spiegelte nichts mehr von dem Stolz wider, der sie zuvor erfüllt hatte, weder bei den Conden- noch bei den Ancen-Sree.
Zengsu wartete, bis auch der
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