Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
allein. Wenn wenigstens irgendwo eine Tür wäre, an die sie klopfen konnte, ein Fenster, hinter dem Licht brannte. Aber die Straße war dunkel und verlassen wie eine Schlucht.
Sie lief schneller, aber die Schritte und das Schaben folgten ihr und mit ihm kroch etwas in ihre Seele, etwas Finsteres, Unaussprechliches, das von Sekunde zu Sekunde stärker wurde und sie mit namenloser Angst erfüllte.
Immer wieder wandte sie sich um, ohne jemanden zu sehen. Da war ein Schatten, ein verschwommener Umriss, von dem sie nicht einmal sicher war, ob er wirklich existierte, oder ob ihr Furcht und Phantasien nur etwas vorgaukelten; ein Schemen, der sich stets am Rande des gerade noch Sichtbaren aufhielt und immer verschwand, wenn sie genauer hinzusehen versuchte.
Vergessen war Jeoffrey Windham. Jetzt ging es nur noch darum, ihre kleine Dachkammer zu erreichen. Es war der einzige Ort, der ihr Schutz bieten konnte. Sie rannte, so schnell sie nur konnte. Lange würde sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Ihr Atem ging keuchend, ihr Herz jagte und ein stechender Schmerz breitete sich in ihrer Hüfte aus. Ihre Muskeln begannen bereits sich zu verkrampfen.
Jennifer tauchte in eine schmale Gasse ein und presste sich eng an eine Wand. Verputz und Kalk lösten sich unter der Berührung von der Fassade, irgendwo kollerte ein Stein. Eine Katze schrie; ein unheimlicher, Angst machender Laut, der Jennifer einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Gleichzeitig berührte etwas ihr Bein.
Nur mit Mühe konnte die junge Frau einen Schrei unterdrücken. Was sie berührt hatte, war nur ein herumwirbelndes Zeitungsblatt gewesen; nichts als ein böses Spiel des Windes. Mit aller Kraft zwang sie sich zur Ruhe. Kalter, klebriger Schweiß bedeckte ihre Stirn. Fast eine Minute lang starrte sie angestrengt in die Richtung, aus der sie gekommen war. Von ihrem Verfolger war weder etwas zu sehen noch zu hören. Für einen Moment versuchte sich Jennifer mit aller Macht einzureden sich getäuscht zu haben. Aber dann trug der Wind ein leises, widerwärtiges Lachen an ihr Ohr. Wie eine Stichflamme loderte die Angst erneut in ihr hoch.
Dann sah sie die kleine, gedrungene Gestalt am Ende der Gasse auftauchen. Suchend blickte der Unbekannte sich um, dann trat er in die schmale Lücke zwischen den Häusern.
Halb verrückt vor Angst rannte Jennifer weiter. Sie wusste nicht, wer der Mann hinter ihr war, was er von ihr wollte und warum. Sie wusste nur, dass etwas Schreckliches geschehen würde, wenn er sie einholte. Das Wissen war einfach da, ein Gefühl, das keine wie auch immer geartete Begründung nötig hatte. Vielleicht war er ihr von Windham nachgeschickt worden, um sie für alle Zeit zum Schweigen zu bringen. Vielleicht war er auch schlichtweg ein Wahnsinniger, der unaussprechliche Dinge mit einer einsamen, hilflosen Frau wie ihr im Sinn hatte.
So oder so, sie musste ihm entrinnen; irgendwie.
Das Gewitter war näher gekommen. Blitze schienen den Himmel zu spalten, und tauchten die Umgebung in regelmäßigen Abständen für Bruchteile von Sekunden in kaltes, bläuliches Licht. Der Donner grollte mit solcher Urgewalt, als stünde der Weltuntergang bevor, aber darauf achtete Jennifer kaum. Ständig wechselte sie die Richtung, tauchte in Gassen ein, hastete über schmutzige Höfe und zwängte sich durch schmale Lücken zwischen Mauerwerk und Lattenzäunen.
Aber sie konnte ihren Verfolger nicht abschütteln!
Im Gegenteil, er holte ständig mehr auf. Immer, wenn sie sich umwandte, entdeckte sie ihn schon nach wenigen Sekunden. Wie ein gesichtsloser schwarzer Schatten hatte er sich an ihre Fährte gehängt und folgte ihr mit der Unerbittlichkeit eines Bluthundes.
Sie war nahe daran, einfach aufzugeben. Ihre Lunge brannte, als atmete sie glühende Lava. Die Seitenstiche waren schmerzhaft wie Dolchstöße. Sie bekam keine Luft mehr.
Laternen gab es in dieser Gegend nicht und die Dunkelheit war fast vollkommen. Knotige schwarze Wolkenfäuste hatten die Sterne verschlungen und auch das höhnische Grinsen des Mondes war erloschen. Nur die immer rascher aufeinander folgenden Blitze zeigten Jennifer, wie weit der Fremde noch von ihr entfernt war. Ihr Vorsprung war erschreckend klein. Mehr und mehr gewann sie den Eindruck, dass der Unheimliche ein grausames Spiel mit ihr trieb. Er hatte bewiesen, dass er sie mit Leichtigkeit einholen konnte. Dass er es noch nicht getan hatte, zeigte, dass er sich an ihrer Angst weidete. Sie fühlte sich wie die Maus,
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