Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
Gedanken zu verscheuchen, aber es ging nicht. Die Angst hatte sich wie der Keim einer schleichenden Krankheit in ihr eingenistet und ließ sie schneller laufen. Sie musste sich sehr beeilen, um noch vor Einbruch des Gewitters nach Hause zu gelangen. Lange würde der Regen nicht mehr auf sich warten lassen.
Ihr Zorn ebbte weiter ab und an seiner Stelle machte sich der bittere Geschmack der Enttäuschung auf ihrer Zunge breit. Was für eine Närrin war sie doch gewesen! Von Anfang an hätte sie wissen müssen, dass Träume niemals wahr wurden – und wenn doch, dann als Albtraum. Dafür war alles viel zu märchenhaft gewesen, aber in ihrer grenzenlosen Einfalt hatte sie sich die Hoffnung bewahrt, dass das Wunder doch geschehen würde. Jedesmal war sie mit größerer Erwartung zu Windham gegangen. Wie eine seelenlose Puppe war sie ihm im Bett zu Willen gewesen, hatte all die Dinge ertragen, die er von ihr verlangte, und sich immer wieder an die Hoffnung geklammert, dass er seine Versprechen doch noch einlöste. Wie hatte sie nur glauben können, der reiche, adelige Gentleman würde sie, die armselige Küchengehilfin heiraten? Sie hatte Dinge getan, für die sie sich selbst verabscheute.
Und wozu?, dachte sie bitter.
Wie vielen anderen Mädchen hatte er wohl noch die Ehe versprochen, nur um sie sich gefügig zu machen? Fünf? Zehn? Fünfzig? Es war Jennifer egal. Sie dachte nur noch an das, was er ihr angetan hatte. Und an ihre Rache.
Sie würde den Umtrieben dieses feinen Sirs einen Riegel vorschieben. Keine noch so hohe Summe würde sie davon abbringen. Dafür hatte er sie zu tief getroffen. Jede Demütigung hätte sie ertragen können, aber dass er ihre Hoffnungen so grausam missbraucht und enttäuscht hatte, konnte sie nicht verzeihen.
Jennifer wollte Rache und sie würde sie bekommen, das schwor sie sich. Es war ihr klar, dass auch sie dafür bezahlen musste. Alle würden mit Fingern auf sie deuten, sie würden tuscheln und die Köpfe zusammenstecken, wenn sie sie sahen. Sie würde eine Geächtete sein, aber das war ihr gleich. Ihre Enthüllungen würden einen ungeheuren Skandal auslösen. Schließlich verkehrte Windham in bester Gesellschaft.
Noch …
Der Wind war mittlerweile so stark geworden, dass er Blätter und allerlei Unrat durch die verlassenen Straßen trieb, und der Donner, der sich zuerst nur ab und zu gemeldet hatte, rollte nun fast ununterbrochen. Jennifer begegnete keinem Menschen, aber sie achtete auch nicht auf die Umgebung. Sie merkte nicht einmal, dass sie bereits seit Minuten vor Verzweiflung weinte. Schluchzend hastete sie vorwärts, blind und ziellos und ohne selbst zu wissen wohin. Ihre Schritte hallten hohl von den Wänden wider. Das Echo klang beinahe geisterhaft in ihren Ohren, wie ein Laut aus einer fremden, unheimlichen Welt.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis Jennifer Corland erkannte, dass sie gar nicht nur den Widerhall ihrer eigenen Schritte vernahm.
Jemand folgte ihr.
Der Gedanke riss sie in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich nahm sie ihre Umgebung wieder bewusst wahr: den Donner, den heulenden Wind, die Kälte und den allmählich einsetzenden Regen. Es war noch weit bis nach Hause. Die Gegend hier war heruntergekommen, aber noch geradezu vornehm im Vergleich mit den Straßenzügen Sohos, wo sie wohnte. Es gab nur wenige Laternen, die in großen Abständen standen. Ihr Licht reichte kaum aus, mehr als vage Schemen wahrzunehmen. Dazwischen waren große, unregelmäßig geformte Bereiche absoluter Dunkelheit; wie lichtlose Abgründe.
Jennifer wandte den Kopf, doch in dem schummerigen Dämmerlicht konnte sie nicht viel erkennen. Sie hatte den Eindruck, als wäre die Straße leer, aber das musste eine Täuschung sein, denn noch immer hörte sie die Schritte.
Es waren die schweren Tritte eines Mannes; unregelmäßig, taumelnd, als wäre der Mann betrunken. Ein hässliches, gerade noch wahrnehmbares Schaben und Schleifen begleitete die Schritte. Jennifer sah sich mit neu aufkeimender Angst um. Erst jetzt begann sie wirklich zu ahnen, worauf sie sich eingelassen hatte; welche Gefahren einer jungen und zudem noch hübschen Frau wie ihr in einer Gegend wie dieser drohten; nachts und allein. Sie hatte Gerüchte über einen Mörder gehört, der in London umging, diese aber nicht sonderlich ernst genommen. Es wurde viel getratscht und so etwas waren Dinge, die höchstens immer anderen Menschen passieren konnten.
Jetzt aber befand sie sich selbst in Gefahr; sie war mit ihrem Verfolger
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