Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
um in den Schacht in der Mitte des Raumes hinabsehen zu können, aber er wünschte sich, es nicht getan zu haben.
Das Loch war kreisrund und reichte vielleicht fünf, sechs Yards weit in die Tiefe. An seinem Grund glitzerte schwärzliches, übel riechendes Wasser, auf dessen Oberfläche eine ölig schimmernde Schicht schwamm, und dicht darunter …
Alles in Cohen schien sich schmerzhaft zusammenzuziehen, als er den schwarzen Koloss erblickte, der dicht unter der Wasseroberfläche schwamm. Er konnte wenig mehr als einen Umriss erkennen, aber er wusste trotzdem sofort, welcher Art von Geschöpf er sich gegenübersah. Er hatte ein solches Wesen schon einmal gesehen und dieses eine Mal hatte gereicht, ihn den Anblick nie wieder vergessen zu lassen.
Es war das Geschöpf, das am Morgen das Gefängnis überfallen hatte. Wie dort konnte er seine wahre Gestalt nicht wirklich erkennen, denn nun verhüllte sie das schmutzige Wasser, so wie es am Morgen der Nebel getan hatte, aber er wusste einfach, was es war, und plötzlich waren die Angst und das Entsetzen wieder da; und das gleiche Grauen, das er am Morgen verspürt hatte, als die monströse Riesenschnecke das Gefängnis angegriffen und vor seinen Augen drei bewaffnete Männer regelrecht in Stücke gerissen hatte. Der Revolver in seiner Hand kam ihm mit einem Male lächerlich vor.
Und vielleicht wäre Inspektor Wilbur Cohen in diesem Moment zum ersten Mal im Leben schwächer gewesen als seine Furcht und hätte die Flucht ergriffen, wäre sein Blick nicht in der gleichen Sekunde auf die Gestalt gefallen, die lang ausgestreckt auf dem schwarzen Altar lag.
Seine Augen weiteten sich ungläubig. Was er sah, war … einfach unmöglich.
Cohens Gedanken begannen sich wie wild im Kreise zu drehen. Für einen Moment war er felsenfest davon überzeugt, sich bei dem Sturz in den Keller doch ernsthaft verletzt zu haben und nun im Hospital zu liegen und einen Fiebertraum zu durchleiden. Es war unmöglich. Er hatte seine Leiche gesehen. Er war dabei gewesen, als man ihn in einen Sarg gelegt und auf den Friedhof gebracht hatte! Es war un-mög-lich!
Etwas im Rhythmus des Gesanges und der sich hin- und herwiegenden Männer unter ihm veränderte sich und zugleich registrierte Cohen eine schwerfällig Bewegung in dem schwarzen Wasser am Grunde des Schachtes und fuhr aus seinen Gedanken hoch.
Ein dünner, schwarz glänzender Arm streckte sich aus dem Wasser, gefolgt von einem zweiten, dritten, vierten, bis es ein ganzer Wald zitternder Tentakel war, der sich langsam über den gemauerten Rand des Schachtes erhob und nach dem Altar tastete. Zugleich beugte sich die Frau über die reglose Gestalt auf dem Stein und ebenfalls im gleichen Moment zog einer der beiden Männer auf der anderen Seite des Blockes einen langen, zweischneidig geschliffenen Dolch unter seinem Gewand hervor und beugte sich über den Mann, der auf dem Altar ausgestreckt war. Der Gesang wurde wilder, stampfender. Etwas ungemein Böses war plötzlich in seinem Rhythmus.
Inspektor Cohen hob seine Waffe.
Der Schuss rollte als mehrfach gebrochenes, lang widerhallendes Echo durch die unterirdische Halle. Das Dröhnen schien kein Ende zu nehmen, sondern im Gegenteil mit jedem Male, da es vom weißen Marmor der Wände zurückgeworfen wurde, um eine Winzigkeit lauter zu werden. Und darunter wuchs ein anderes Geräusch heran, etwas wie ein Schrei, ein Grollen, noch im Entstehen begriffen und im ersten Moment kaum wahrnehmbar, dem man aber trotzdem bereits jetzt anmerkte, dass es sich zu einem Brüllen steigern würde, unter dessen Wucht die ganze Welt erzittern musste.
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen – und stieß meinerseits einen ungläubigen, überraschten Schrei aus.
Shadow stand über mir, die Arme hoch erhoben und den Dolch in beiden Händen, zum Zustoßen bereit. Aber sie war nicht mehr Shadow. Aus dem Antlitz des weißen Engels war das einer uralten, abgrundtief hässlichen Frau geworden. Strähniges, graues Haar umgab ein Gesicht, das von Entbehrungen, Krankheit und einem Leben voller Hass und Kampf gezeichnet war. Ihre Haut starrte vor Schmutz und war von einem hässlichen schwarzen Ausschlag übersät und hinter den rissigen Lippen des viel zu breiten Mundes grinsten mich die verfaulten Ruinen gelber, schräg gewachsener Zähne an. Eine Sekunde lang stand sie noch völlig reglos über mich gebeugt da, dann begann sie zu wanken, beugte sich vor, sodass ich fast Angst hatte, sie würde auf mich stürzen –
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