Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
und kippte dann stocksteif und den Dolch noch immer mit beiden Händen umklammernd, als wäre er das Letzte, woran sie sich noch festhalten könnte, nach hinten. Und noch während sie fiel, sah ich den roten, rasch größer werdenden Fleck, der sich auf der Brust ihres zerfetzten Lumpenkleides ausbreitete.
Ein zweiter Schuss fiel und das Geräusch riss mich endlich aus der Erstarrung, in die mich der erste versetzt hatte. Ich registrierte instinktiv die Gefahr, in der ich mich befand, riss schützend die Arme über das Gesicht und rollte mich gleichzeitig von dem Opferaltar herunter; kaum eine Sekunde, bevor Crowleys Begleiter von einer Kugel getroffen nach vorne geschleudert wurde. Die Fackel, mit der er nach mir geschlagen hatte, traf den Stein genau dort, wo mein Gesicht gewesen wäre, hätte ich mich nicht herumgeworfen. Winzige Holzsplitter und Glas spritzten hoch; einige trafen meine Kleider und hinterließen winzige, rauchende Löcher. Ich rollte vollends von dem Stein herunter, schlug schwer auf dem Boden auf und hätte mich wahrscheinlich übel verletzt, wäre ich nicht auf den reglosen Körper der Alten gefallen, die ich für Shadow gehalten hatte. Aber auch so blieb ich benommen einige Sekunden lang liegen, während rings um mich herum die Hölle loszubrechen schien.
Immerhin gab mir meine Benommenheit Zeit, mich zum ersten Mal wirklich in meiner Umgebung umzusehen, und was ich erblickte, das war so bizarr und erschreckend, dass ich vermutlich ohnehin einige Sekunden gebraucht hätte, den Anblick zu verarbeiten.
Shadow war nicht die Einzige, die sich verändert hatte. Nichts hier war so, wie ich es gesehen hatte. Der Tempel war kein Tempel, sondern eine verfallene, finstere Höhle, zum Teil aus natürlichem Fels, zum Teil aus uraltem Mauerwerk gemacht, das von einer schmierigen, übel riechenden Schicht überzogen war. Der Altarstein bestand nicht aus weißem Marmor, sondern war ein gewaltiger, rissiger Block, auf dessen Oberfläche eingetrocknetes Blut und faulender Schmutz klebten, und statt eines halben Dutzends in rote Seide gekleideter, priesterähnlicher Gestalten sah ich mich der gleichen Anzahl zerlumpter, heruntergekommener Männer gegenüber, deren Gesichter ebenso krank und ausgezehrt wirkten wie das der alten Frau. Einzig Crowley hatte sich nicht verändert, sondern stand in das gleiche unheimliche Gewand gehüllt und mit der gleichen Maske vor dem Gesicht da, und obwohl ich noch immer nur seine Augen sehen konnte, erkannte ich doch den abgrundtiefen Schrecken und die grenzenlose Wut, die darin loderten. Und noch etwas registrierte ich: Neben der vermeintlichen Shadow hatte eine weitere Gestalt gestanden, die aber so klein war, dass sie kaum über den Rand des Altars hatte blicken können, und die ich bei meinem Sturz halb von den Füßen gerissen hatte. Es war ein Junge. Ich schätzte ihn auf fünf, allerhöchstens sechs Jahre. Er hatte ein sanft geschnittenes, fast mädchenhaftes Gesicht und volles, schwarzes Haar und als Einziger hier war er nicht in Lumpen gekleidet, sondern trug ein Gewand aus feinstem grauem Tuch und ein weißes Rüschenhemd. Seine großen, dunklen Augen blickten mich voller Furcht und Erstaunen an, sodass ich instinktiv die Hand nach ihm ausstreckte, um ihn zu beruhigen. Aber er schreckte vor mir zurück, starrte mich noch eine Sekunde lang aus weit aufgerissenen Augen an und fuhr dann herum, um in heller Panik davonzustürzen.
Ich konnte es ihm nicht verdenken, denn die Szenerie begann mittlerweile albtraumhafte Dimensionen anzunehmen. Ein weiterer Schuss fiel und einer von Crowleys Männern drehte sich, von der Kugel getroffen, anderthalb Mal um seine eigene Achse und sank dann zu Boden, und plötzlich hörte ich wieder dieses ungeheuerliche, zornige Brüllen, das diesmal tatsächlich so laut war, dass der Boden unter mir vibrierte. Ich sah auf und hinter mich, kreischte vor Schrecken und war so schnell auf den Füßen wie noch nie zuvor im Leben.
Auch das vermeintliche Seerosenbecken hatte sich verändert. Es war zu einem runden, wie in den Boden hineingestanzt wirkenden Loch voller schmierigem, schwarzem Wasser geworden, von dem ein Übelkeit erregender Gestank ausging. Aus seiner brodelnden Oberfläche erhob sich ein Dutzend schwarzer, glänzender Tentakel, von denen Schleim und stinkendes Wasser tropften, und darunter war der Körper einer ungeheuerlichen, aufgedunsenen Scheußlichkeit zu erkennen, die sich mit unbeholfenen Bewegungen aus dem Pfuhl
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