Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
Hartes zu fassen – die Leitersprosse, die ich aus der Wand gebrochen hatte! Ganz automatisch ergriff ich sie und schlug damit zu. Ich erlegte eine weitere Ratte, aber dann war das Gros der anderen heran und überspülte meine Beine wie eine braune, lebende Woge, die nur aus Zähnen und winzigen reißenden Krallen zu bestehen schien. An einem Dutzend Stellen zugleich gruben sich Fänge in meine Kleider und die Haut darunter, etwas kroch in mein Hosenbein und zerriss mir mit den Krallen die Haut und ein hässliches, haariges Nagergesicht erschien unmittelbar vor dem meinen, die Zähne gebleckt, um sie in meine Haut oder auch die weicheren Augen zu schlagen.
»Nein!«, schrie ich verzweifelt. »Hört auf! Geht weg! Geht doch weg!«
Es war nicht mehr als der gellende Angstschrei eines Kindes, das weiß, dass das Ungeheuer aus seinen Träumen Wirklichkeit geworden ist und es holt, aber ich schrie immer wieder und wieder und etwas in mir fing diesen Schrei auf und stimmte darin ein. Ich merkte nicht einmal, dass ich mich wimmernd zusammenkrümmte, die Beine an den Leib gezogen und die Arme schützend über das Gesicht geschlagen.
Aber nach einer Weile merkte ich, dass ich noch am Leben war.
Und dass die Ratten von mir abgelassen hatten.
Völlig verstört – und von nichts so sehr überzeugt wie der aberwitzigen Angst, dass ich nur die Augen zu öffnen bräuchte, um die Ratten dadurch zu einem neuen Angriff zu provozieren – nahm ich die Arme herunter und richtete mich ein wenig auf.
Die Ratten waren noch da.
Sie hockten, einen fast perfekten Dreiviertel-Kreis bildend, in dessen gedachtem Schnittpunkt ich mich befand, weniger als einen Yard von mir entfernt und starrten mich an; und wenn ein Rattengesicht überhaupt in der Lage ist, irgendein Gefühl auszudrücken, so war das, was ich auf den ihren las, eine Verblüffung, die kaum weniger gewaltig war als meine eigene.
Für eine Sekunde fragte ich mich allen Ernstes, ob ich mir den Angriff und alles andere vielleicht nur eingebildet hatte. Aber er war real gewesen – ich blutete aus einem Dutzend winziger, aber heftig brennender Bisswunden, meine Kleider hingen in Fetzen und in der Hand hielt ich noch die Eisensprosse, an deren rostigem Ende Blut und graue drahtige Haare klebten.
Unendlich behutsam richtete ich mich weiter auf. Die Ratten reagierten nicht auf die Bewegung, aber sie starrten mich weiter auf eine Art an, die mich schaudern ließ. In ihren Augen loderte eine animalische Gier und jene Mordlust, zu der diese Wesen wohl als einzige Vertreter des Tierreiches fähig waren, aber auch noch etwas anderes, das ich nicht in Worte fassen konnte, das mir aber fast noch mehr Angst machte. Was um alles in der Welt ging hier vor?
Ich richtete mich weiter auf. Die Ratten regte sich noch immer nicht und ich begann etwas wie eine vorsichtige Erleichterung zu empfinden. Wunder oder nicht, vielleicht hatte ich ja doch noch eine Chance, lebend hier herauszukommen.
Im gleichen Moment preschte eine der Ratten vor und schnappte nach meinem Fuß.
»Nein!«, schrie ich.
Die Ratte blieb stehen. Wieder erschien dieser bei einem Tier eigentlich unmögliche Ausdruck von Verwunderung auf ihrem spitzen Gesicht und dann begann sie Schritt für Schritt zurückzuweichen, bis sie ihren Platz in der Reihe der anderen wieder eingenommen hatte. Es war fast, als … als hätte sie meine Worte verstanden und dem Befehl gehorcht!
»Geht zurück!«, befahl ich.
Die Ratten zogen sich zurück. Nicht sehr weit und mit sichtlichem Widerwillen, aber sie gehorchten. Vor lauter Verblüffung riss ich Mund und Augen auf und sofort geschah dasselbe wie gerade, als ich in meiner Aufmerksamkeit nachgelassen hatte: Die Ratten rückten wieder vor – und blieben abermals stehen, als ich ihnen ein befehlendes »Nein!« entgegenrief.
Für lange Sekunden stand ich einfach da und blickte sie an. Das Geschehen war so unheimlich, dass meine Furcht wieder erwachte, jetzt aber von völlig anderer Art war. Irgendetwas ging hier vor, etwas Unheimliches, das ich beim besten Willen nicht erklären konnte und das mir beinahe mehr Angst machte, als es alle Ratten Londons zusammengenommen vermocht hätten. Ich musste plötzlich wieder an das Empfinden denken, das ich vorhin gehabt hatte – das absurde Gefühl, die Gedanken der Ratte zu spüren. War es möglich, dass ich tatsächlich … mit ihnen sprach? Auf eine unheimliche, mir selbst Angst machende Weise mit diesen Tieren kommunizierte – und ihnen zu
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