Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
anfassen zu können, wenn man nur den Arm ausstreckte. Alle Geräusche wirkten sonderbar gedämpft und stumpf und selbst das graue Licht, das die Wolken irgendwie durchdrungen hatte, war nicht richtig; die Schatten, die es warf, schienen ein winziges bisschen in die Richtung verschoben, in der der Wahnsinn und das Chaos lauerten. Wenn man genau hinsah, dann glaubte man manchmal, Dinge in diesen Schatten zu erkennen, Dinge, die sich bewegten und krochen, aber immer wieder verschwanden, und immer wieder einen winzigen Moment, ehe sie wirklich Realität werden konnten.
Ein eisiger Windstoß schlug Howard ins Gesicht, als er auf den Gefängnishof hinaustrat, und überschüttete ihn mit winzigen Tröpfchen, die wie Nadeln in seine Haut stachen. Er verzog leicht das Gesicht, aber er widerstand der Versuchung, schützend die Hand darüber zu heben oder auch nur den Blick zu wenden, denn selbst dieser Schmerz erschien ihm unendlich kostbar, war er doch eine der letzten Empfindungen, die er in seinem Leben haben würde.
Er dachte diesen Gedanken ohne Bitterkeit oder auch nur Furcht. Alles, was er fühlte, war eine tiefe Trauer über all die Dinge, die er nun nicht mehr sehen oder tun konnte, und eine fast wissenschaftliche Neugier bei der Frage, was ihn wohl auf der anderen Seite erwartete.
Nun, in wenigen Augenblicke würde er es wissen.
Er ging weiter und ein neuerlicher, viel heftigerer Windstoß traf sein Gesicht und ließ ihn blinzeln. Ein einzelner Blitz spaltete den Horizont und einige Sekunden später rollte das Echo eines noch weit entfernten Donnerschlages über die Stadt. Aus dem leichten Nieselregen würde bald ein ausgewachsenes Unwetter werden, das die Einwohner Londons zurück in ihre Häuser trieb und den schlechten Ruf dieser Stadt – was ihr Wetter anging – weiter festigte.
Das passende Wetter für eine Hinrichtung, dachte er.
Und das war sein letzter wirklich klarer und ruhiger Gedanke. Denn in diesem Moment fiel sein Blick auf das hölzerne Gerüst des Galgens, der in einer Ecke des Hofes errichtet worden war, und seine Gelassenheit und Ruhe zerplatzten ebenso wie die Neugier auf das Leben danach; mit einem Knall, den er beinahe hören konnte.
Abrupt blieb er stehen. Die beiden Gefängniswärter, die ihn begleiteten, duldeten es stillschweigend, aber Howard nahm diese ungewohnte Großzügigkeit nicht einmal wahr.
In Gedanken hatte er sich diesen Moment, von dem er seit mehr als fünf Jahren wusste, dass er irgendwann kommen würde, hunderte, tausende Male ausgemalt. Er hatte sich vorgestellt, wie er hoch erhobenen Hauptes zum Galgen schritt, um so stolz und würdevoll zu sterben, wie er gelebt hatte.
Aber es war etwas anderes, sich eine solche Situation nur vorzustellen oder sie real zu erleben.
In seiner Vorstellung war die Angst nur ein abstrakter Faktor gewesen und er war sicher gewesen, sie ohne große Mühe in den Griff zu bekommen, so, wie er es Zeit seines Lebens stets verstanden hatte, seine Emotionen zu beherrschen. Zu oft schon war er in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen, um noch wirklich Furcht vor dem Tod zu empfinden, und er hatte sich eingebildet, sein Lebenswille wäre spätestens durch die endlosen Jahre in der Todeszelle zermürbt worden.
Aber das stimmte nicht.
Das stimmte ganz und gar nicht.
Es war ein Unterschied, sich einer tödlichen Gefahr gegenüberzusehen und um sein Leben zu kämpfen oder wie ein Opferlamm zum Altar zu schreiten. Wann immer er sich sonst in gefährlichen Situationen befunden hatte, war ihm immer noch Hoffnung geblieben, eine zumindest winzige Chance, dem Sensenmann doch noch zu entkommen. Er hatte gekämpft, weil er es mit Feinden zu tun hatte, aber nicht einmal das war hier der Fall. Die Männer, die in einer Reihe neben dem Galgen standen, waren nicht seine Feinde, sondern lediglich Menschen, die ihrer Pflicht nachkamen.
Howard begriff es im gleichen Moment, in dem sein Blick auf den Galgen fiel. Eine Welle heißer Panik überflutete seine Gedanken. Er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen und seine Beine plötzlich nicht mehr in der Lage schienen, das Gewicht seines Körpers zu tragen. Es gelang ihm kaum, weiterzugehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Howard nahm plötzlich jede Einzelheit seiner Umgebung mit einer nie gekannten, fast magischen Klarheit wahr: Den eisigen, mit winzigen Eiskristallen durchsetzten Regen, der wie ein verfrühter Vorbote des Winters anmutete, das Zwitschern von Vögeln irgendwo auf den Dächern
Weitere Kostenlose Bücher