Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
Befehlen imstande war?
Logisch betrachtet sicher nicht. Aber da waren gewisse, sonderbare Bemerkungen gewesen, die Viktor gemacht hatte, und ich spürte auch im gleichen Moment, wie sich hinter den verschlossenen Türen in meinem Gedächtnis etwas regte; eine Information, die heraus wollte und es nicht konnte, sich aber durch ein kräftiges Klopfen bemerkbar machte.
Ganz, ganz behutsam richtete ich mich vollends auf, wich rückwärts gehend bis zur Wand zurück und tastete nach den Leitersprossen. Die Ratten behielten mich dabei aufmerksam im Auge und ich starrte sie an. Ja, jetzt hatte ich keinen Zweifel mehr – ich spürte ihre Gier, die brodelnde Mordlust und den unstillbaren Hunger, der in ihren Eingeweiden wühlte. Aber ich spürte auch, dass sie es aus irgendeinem Grunde nicht wagten, mich anzugreifen.
»Bleibt, wo ihr seid!«, sagte ich. »Rührt euch nicht von der Stelle!«
Meine tastenden Finger ergriffen rostiges Eisen und schlossen sich darum. Ich rüttelte an der Stufe, aber diesmal schien sie mein Gewicht zu halten. Vermutlich war nur der plötzliche Ruck zu viel gewesen oder ich hatte das Pech gehabt, die einzige wirklich morsche Stufe zu erwischen. So oder so – ich musste das Risiko eingehen.
Ich bedachte die Ratten mit einem letzten, warnenden Blick, raffte all meinen Mut zusammen und drehte mich mit einem Ruck herum. Sofort spürte ich, wie der unheimliche Bann von den Ratten abfiel und sie wieder vorstürmten. Während ich hastig in die Höhe kletterte, bildeten sie einen geifernden, zischenden Haufen am Fuße der Leiter und ein Nijinski unter ihnen versuchte tatsächlich zu mir in die Höhe zu springen, handelte sich damit aber nur einen derben Tritt auf die Nase ein, der ihn quiekend in die Meute der anderen zurückfallen ließ, die sich sofort auf ihn stürzten. Offensichtlich kannte ihre Mordlust plötzlich keine Grenzen mehr.
Rasch kletterte ich weiter, erreichte die Decke und hielt noch einmal inne. Die Sprosse führte in einen sehr engen, kreisrunden Schacht, über dem aber kein Tageslicht war, auch nicht das Lochmuster eines Kanaldeckels. Offensichtlich führte die Leiter nur in eine andere, höher gelegene Etage der Kanalisation hinauf.
Die Ratten tobten unter mir noch immer wie von Sinnen. Sie hatten ihren unglückseligen Kameraden bei lebendigem Leib in Stücke gerissen und offensichtlich auch gleich verspeist, aber ihr Wüten nahm kein Ende. Die Tiere griffen sich jetzt gegenseitig an, verbissen sich ineinander und kratzen und schnappten wie wild um sich. Der Anblick ließ mich schaudern. Man musste kein Experte für Ratten sein, um zu erkennen, dass dieses Verhalten nicht einmal für diese blutgierigen kleinen Killer normal war. Es war, als wäre der Bann, der für einen Moment von ihnen Besitz ergriffen hatte, von etwas anderem abgelöst worden, das sie nun zwang, ebenso hilflos zu toben und übereinander herzufallen, wie sie vorher all ihren Instinkten widersprochen und eine schon sichere Beute hatten gehen lassen.
Aber das allein war nicht einmal das Schlimmste.
Was mich mit schierem Entsetzen erfüllte, war das, war ich bei dem Anblick der Amok laufenden Ratten empfand. Ekel, Entsetzen, Furcht – sicher.
Und gleichzeitig genoss ich es.
Etwas in mir schien triumphierend aufzuschreien, als es sah, wie sich die Ratten gegenseitig zerfleischten, und es war das gleiche, unendlich fremde, unendlich böse Etwas, dessen Macht ich vorhin gespürt hatte, als ich den Shoggoten in Viktors Haus vernichtete, und das um ein Haar auch Viktor selbst zum Verhängnis geworden wäre.
Ich hatte gehofft, es wäre erloschen, fort, hätte sich wie ein Raubtier, das seine Beute geschlagen hatte und satt war, wieder in die Abgründe meiner Seele zurückgezogen, aus denen es emporgestiegen war, aber das stimmte nicht. Es schlief nicht. Es war noch immer da.
Und es war stärker als zuvor.
Nach einem letzten Blick auf die tobende Rattenmeute unter mir kletterte ich weiter. Ich hatte noch immer Angst, aber ich begriff erst jetzt, dass es in Wahrheit nie die Ratten gewesen waren, denen diese Angst galt.
Was ich wirklich fürchtete, vor dem konnte ich nicht davonlaufen, ganz egal, wohin diese Leiter auch führte und wie weit ich auch floh. Denn das war ich selbst.
Der Morgen war feucht und sehr kalt. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und verwandelte den Himmel in eine graue Decke aus geschmolzenem Blei, die so beklemmend tief über der Stadt hing, dass man glauben konnte sie
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