Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
glaubten mir ganz offensichtlich nicht. Sie kamen weiter näher und ich begann mich Schritt für Schritt – und rückwärts gehend, um die grauen Killer auch nicht für eine Sekunde aus den Augen zu verlieren – im gleichen Tempo zurückzuziehen. Alles in mir schrie danach, herumzufahren und davonzurennen, so schnell ich konnte, aber ich gestattete es mir nicht, diesem Impuls nachzugeben; und das aus gleich zwei guten Gründen: Zum einen wusste ich, dass Ratten – zumal in so großer Zahl – einfach schneller rennen können als ein Mensch, selbst wenn er sich in bester körperlicher Verfassung befindet. Und zum anderen befand ich mich in keiner guten körperlichen Verfassung; eher in einer erbärmlichen. Und die Vorstellung zu rennen und dabei jede Sekunde damit rechnen zu müssen, von einem struppigen Ungeheuer angesprungen zu werden, das seine Zähne in meinen Nacken oder meine Beine schlug, jagte mir eine zehn Mal größere Furcht ein, als es der Anblick der Ratten tat.
Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, wie ich hierher gekommen war. Irgendwann auf dem Weg war mir eine Anzahl eiserner Trittstufen aufgefallen, die in die Tunnelwand eingelassen waren und in die Höhe führten. Wenn ich sie erreichte, hatte ich vielleicht eine Chance. Aber ich vermochte einfach nicht zu sagen, ob sie zehn, hundert oder auch tausend Schritte hinter mir lag.
Genau genommen vermochte ich überhaupt nicht zu sagen, wie ich hierhergekommen war. Seit dem Angriff des Shoggotenmonsters auf Viktors Haus mussten Stunden vergangen sein, Stunden, in denen ich halb verrückt vor Angst durch das Labyrinth der Kanalisation irrte und in denen der einzige klare Gedanke, den ich überhaupt fassen konnte, der gewesen war, um jeden Preis die Nähe von Menschen zu meiden. Etwas in mir krümmte sich noch jetzt vor Entsetzen, als ich mich erinnerte, wie nahe ich daran gewesen war, Viktor zu töten. Und obwohl meine Erinnerungen noch immer ein einziges Chaos aus sinnlos in- und übereinander gestapelten Bildern und Szenen waren, wusste ich doch eines mit unerschütterlicher Sicherheit: Ich hätte es getan, wäre ich nicht Hals über Kopf aus seinem Laboratorium geflohen. Ich war blindlings in Freie gestürzt und wahrscheinlich war es wenig mehr als ein Instinkt gewesen, der mich hierher hatte fliehen lassen, in die Kanalisation, wo ich sicher vor der Gesellschaft anderer Menschen war – und diese vor allem vor mir. Erst als ich das zornige Quietschen hörte, eine halbe Sekunde darauf einen brennenden Schmerz am Schienbein verspürte und eine weitere halbe Sekunde später begriff, dass das dünne zuckende Etwas, auf dem ich stand, ein Rattenschwanz war, war ich aus meiner Betäubung erwacht – übrigens nicht nur aus dem Schock, der sich meiner nach der schrecklichen Szene in Viktors Laboratorium bemächtigt hatte. Es war, als hätte dieser abgrundtiefe Schrecken eine ganze Anzahl weiterer, bis dato verschlossener Türen in meinem Kopf aufgestoßen, und ich erinnerte mich jetzt an viel mehr als noch am Morgen; längst nicht an alles, aber doch an vieles, und nicht alle dieser Erinnerungen waren angenehm. Dummerweise sah es im Moment ganz so aus, als würde ich nicht mehr viel Zeit haben, auch den Rest meiner Erinnerungen wieder zurückzubekommen. Die Ratten hatten die Verfolgung nicht aufgegeben. Zwar beteiligten sich zu meiner Erleichterung längst nicht alle an dem Unternehmen, das Abendessen am Davonlaufen zu hindern, aber es mussten immerhin gute zwei Dutzend sein – entschieden zu viele, um sich auf eine handgreifliche Aussprache über die Speisefolge an diesem Abend einzulassen. Wahrscheinlich hätte ich in meinem augenblicklichen Zustand nicht einmal gegen eines der Monster eine gute Figur gemacht …
Ich prallte mit dem Rücken gegen etwas Hartes. Ich drehte mich immer noch nicht herum, erinnerte mich aber jetzt, mich ganz automatisch unter einem Mauervorsprung hinweggeduckt zu haben – die Leiter konnte jetzt nicht mehr weit sein. Vielleicht noch zehn Schritte. Die Verlockung, mich herumzudrehen und einfach loszustürmen, wurde übermächtig. Aber ich wusste auch, dass ich verloren war, wenn ich ihr nachgab. So zwang ich mich weiter rückwärts und mit bewusst langsamen Bewegungen zu gehen und den Anblick der Ratten zu ertragen, die sich immer ein ganz klein bisschen schneller bewegten, als ich es tat. Es war ein Rechenexempel, wann sie mich eingeholt bzw. die Distanz zwischen uns so sehr verkürzt hatten, dass ihre Instinkte
Weitere Kostenlose Bücher