Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
der Gefängnisbauten, die Pflastersteine unter seinen Füßen, die wie aus Stein gehauenen Gesichter der Männer, die Zeugen der Hinrichtung sein würden. Unter ihnen befanden sich nicht nur Dr. Gray, Langston und Cohen, sondern auch ihrer Majestät Lordoberrichter James Darender persönlich, der Howard vor rund fünf Jahren im Old Bailey schuldig gesprochen hatte.
Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke und wäre die Situation irgendwie anders gewesen, dann hätte Howard vielleicht Zufriedenheit verspürt, zumindest aber eine leise Verwunderung, denn was er im Gesicht des Lordoberrichters las, das waren Trauer und Mitleid und ein kaum verhohlener Schmerz; Gefühle, die Howard bei diesem Mann zuallerletzt erwartet hätte, denn schließlich verging kein Monat, in dem er nicht Menschen an den Galgen oder Zeit ihres Lebens hinter die Mauern eines Zuchthauses schickte. Jetzt in seinen Augen Bestürzung über den bevorstehenden Tod eines Menschen zu lesen, überraschte Howard. Gleich darauf schämte er sich seiner eigenen Gedanken, denn damit sprach er Darender letztlich auch jedes menschliche Gefühl ab.
Er erreichte das Gerüst und stieg die Stufen zu dem Podest hinauf, auf dem der Henker ihn mit teilnahmsloser Miene erwartete. Das Zittern in seinen Händen und Beinen verstärkte sich noch. Er wollte nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt und vor allem nicht so.
Hatte er wirklich vor nicht einmal einer halben Stunde zu Gray gesagt, er wäre erleichtert, dass es nun endlich vorbei war?
Lächerlich!
Niemand war erleichtert, wenn er starb, ganz gleich, wer und aus welchen Gründen auch immer. Er wollte Leben, ganz egal um welchen Preis. Fünf Jahre lang hatte er sich eingebildet, nur noch aus einem einzigen Grund durchzuhalten, aber jetzt begriff er, dass das nicht stimmte. Er wollte leben, weil er leben wollte, so einfach war das und das war Grund genug.
Du kannst es, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. Du musst es nur wollen. Es ist ganz einfach.
Howard schloss mit einem Stöhnen die Augen und ballte die Hände zu Fäusten, so heftig, dass sich seine Fingernägel in die Handflächen gruben und Blut hervorquoll. Verzweifelt versuchte er das verlockende Wispern zum Schweigen zu bringen, aber es gelang ihm nicht.
Howard hatte versucht jeden Gedanken an einen Ausbruch, ja sogar an die bloße Existenz seiner Fähigkeiten zu verdrängen, doch nun ging selbst das nicht mehr. Er hatte seine Kräfte benutzt, um Robert Craven vor dem sicheren Tod zu bewahren, warum sollte er jetzt nicht auch sich selbst retten?
Wenn du stirbst, wisperte die Stimme hinter seiner Stirn weiter, leise, schmeichelnd und seidig wie die Stimme aller Verlocker zu allen Zeiten gewesen waren, wird das Zeitfeld ohnehin erlöschen, mit dem du Robert schützt.
Und das Schlimmste war vielleicht, dass das die Wahrheit war. Falls es Viktor in den vergangenen fünfeinhalb Jahren nicht gelungen war, Roberts Körper wieder in einen lebensfähigen (oder wenigstens über lebensfähigen) Zustand zu versetzen, würde Robert ohnehin sterben. Ob jetzt oder in fünf Minuten, wo ist der Unterschied?, wisperte der Versucher. Tu es. Rette dich und rette damit auch Robert.
Das alles war wahr, auf eine entsetzliche Weise einfach und logisch – und trotzdem gab er der Versuchung nicht nach. Wenn er seine geheimnisvollen Kräfte, die Zeit zu manipulieren, jetzt benutzte, um sich selbst zu schützen, dann würde das Zeitfeld um Robert sofort zusammenbrechen und die fünf Jahre, die der dem Tod abgetrotzt hatte, würden Robert einholen und mit ziemlicher Sicherheit auf der Stelle umbringen. Möglicherweise geschah das auch, wenn er starb, möglicherweise – nur möglicherweise, aber Howard wusste, dass die Chance dazu bestand –, jedoch würde es nur langsam schwinden. Das konnte einige Tage dauern, unter Umständen aber auch Wochen. Viktor hatte fünfeinhalb Jahre Zeit gehabt, da war es lächerlich zu glauben, einige wenige weitere Tage oder auch Wochen könnten noch eine Rolle spielen, aber es war immerhin eine Chance.
Der zweite Grund war wesentlich persönlicher – und weniger rational.
Als er das letzte Mal seine Kräfte eingesetzt hatte, hatte es den Tod von Roberts Sohn zur Folge gehabt. Gray hätte diesen Gedanken als lächerlich abgetan und sogar Robert selbst hätte ihn vermutlich ausgelacht, hätten sie Gelegenheit gehabt, darüber zu reden. Selbst die Logik sagte ihm, dass das, was mit dem Kind geschehen war, nicht an ihm lag. Aber da war noch
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