Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
mit Skalpellen und Fachausdrücken über ihn herfallen konnten, ohne den wirklich unangenehmen Teil der Arbeit zu tun, wie ihn zu waschen, zur Untersuchung herzurichten und gegebenenfalls die einzelnen Teile zu sortieren – noch am vergangenen Morgen war er ein ehrbarer Beamter gewesen, mit der Aussicht auf eine Pension und einen geruhsamen Lebensabend und wahrscheinlich hatte er eine Familie gehabt und Freunde, mit denen er zusammen Pläne für die nächsten dreißig oder vierzig Jahre gemacht hatte. Jetzt war es damit aus. So viel McDonald gehört hatte, war der arme Kerl einem Verrückten in die Hände gefallen, der ihm die Kehle durchgebissen hatte. So schnell konnte das gehen.
McDonald verscheuchte den Gedanken, wickelte sein Brot vollends aus und stellte fest, dass seine Frau wieder einmal einen Anflug ihres ganz besonderen Humors gehabt haben musste – auf dem Sandwich war Schweinebregen. Er grinste, biss nichtsdestotrotz mit großem Appetit hinein und begann genüsslich zu kauen, als aus dem Nebenraum die Stimme eines seiner beiden Kollegen erscholl: »Himmelarschdonnerwetter! Was ist denn das für eine Sauerei?«
McDonald runzelte die Stirn, betrachtete das angebissene Sandwich eine Sekunde lang verwirrt und stand dann auf. Das Brot in der Rechten und noch immer kauend, ging er in den benachbarten Raum. Seine beiden Kollegen standen vor dem Untersuchungstisch und wandten ihm den Rücken zu. Trotzdem konnte McDonald sehen, dass sie den toten Bauaufsichtsbeamten bereits entkleidet und auf den Tisch gelegt hatte. Zumindest von seiner Position aus konnte McDonald nichts Außergewöhnliches an der Leiche erkennen.
»Was ist denn los?«, fragte er mit vollem Mund.
Stan, der ältere der beiden Männer, drehte sich halb zu ihm herum und deutete zornig gestikulierend auf den Leichnam. »Schau dir das an! Sie hätten es uns wenigstens sagen können!«
»Was sagen?« McDonald trat noch immer kauend an seinem Kollegen vorbei und warf einen neugierigen Blick auf den Toten. In der nächsten Sekunde verstand er, was Stan gemeint hatte.
»Diese dämlichen Hunde!«, schimpfte Stan. »Wahrscheinlich haben Sie sich halb tot gelacht, als sie ihn in den Krankenwagen verfrachtet haben und an unsere Gesichter dachten. Scheiße, da kann einem ja der Appetit vergehen!«
Das geschah nicht – aber McDonald verstand die Erregung seines Kollegen durchaus. Es war nicht das erste Mal, dass die Ambulanzler, die die Toten brachten, ihnen nicht alles sagten, womit sie zu rechnen hatten.
»Sie haben erzählt, dass ihm jemand die Kehle durchgebissen hat!«, beschwerte sich Stan. »Aber sie haben nicht gesagt, dass er ihn ausgehöhlt hat!«
Diese Behauptung kam der Wahrheit ziemlich nahe, fand McDonald. Der Schädel des Toten war auf die Seite gerollt, sodass man seinen Hinterkopf sehen konnte. Oder auch nicht. Wo die Schädeldecke des Toten sein sollte, gähnte ein mehr als faustgroßes Loch. Sein Gehirn und alles, was sonst noch in seinem Kopf sein sollte, fehlte. Der Tote sah wirklich aus, als wäre er ausgehöhlt worden.
»Wo zum Teufel ist sein Gehirn?«, empörte sich Stan.
McDonald blickte eine Sekunde lang nachdenklich auf sein Sandwich herab, dann wieder auf den geöffneten Schädel des Toten, dann zuckte er mit den Schultern und biss herzhaft in sein Brot.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht. Darüber sollen sich die Ärzte den Kopf zerbrechen. Die werden besser bezahlt als wir.«
Und damit drehte er sich herum und ging, um seinen vorgezogenen Lunch fortzusetzen.
Das faustgroße Loch, das im Boden direkt unter dem Untersuchungstisch gähnte, bemerkten an diesem Abend weder er noch einer seiner beiden Kollegen. Es fiel erst den Männern der Tagschicht auf, die unverzüglich einen Maurer bestellten, um es ausbessern zu lassen.
Kevin Collins arbeitete bereits seit fast dreißig seiner insgesamt neunundvierzig Jahre auf der Harper-Werft. Die harte Arbeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Er war ein bulliger Mann mit breiten Schultern und Händen, die an die Pranken eines Bären erinnerten. Wo er hinschlug, da wuchs so schnell kein Gras mehr, das konnten zahlreiche Zecher bezeugen, die im Laufe der Zeit den Fehler begangen hatten, sich in einer der vielen Kneipen des Hafenviertels, in denen er verkehrte, mit ihm anzulegen. Er war kein streitsüchtiger Mann, ganz gewiss nicht, aber er ging auch keiner Schlägerei aus dem Wege, wenn er genügend provoziert wurde.
Angst
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