Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
nach.
Das Problem mit dem Kater hatte sich ganz von allein gelöst. Nach kaum zwei Meilen, die das Tier friedlich dösend auf meinem Schoß verbracht hatte, war es plötzlich unruhig geworden und hatte kläglich zu miauen begonnen, sodass ich den Kutscher schließlich hatte anhalten lassen. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, war es mit einem Satz im Freien verschwunden. Es tat mir ein bisschen Leid, denn ich hatte das Tier gemocht, war aber zugleich auch froh, dass es seiner Wege ging. Ich hatte im Moment wahrlich genug andere Sorgen. Und so ganz nebenbei weder die Zeit noch die Gelegenheit, mich um einen zugelaufenen Kater zu kümmern.
Wir hatten die Innenstadt bereits hinter uns gelassen und näherten uns dem Eastend. Mit jedem Yard, den wir zurücklegten, schien die Umgebung ein wenig verkommener zu werden und der Verfall setzte sich fort, bis wir unser Ziel erreichten. Die Pension WESTMINSTER lag in einer Gegend, für die selbst die Bezeichnung Slum noch geschmeichelt gewesen wäre. In der kopfsteingepflasterten Straße gähnten unzählige Löcher, durch die die Kutschenräder rumpelten, und jedes Mal wurde ich auf meinem Sitz durchgeschüttelt. Ein durchdringender Gestank nach Fäulnis erfüllte die Luft. Überall lagen Abfälle und Unrat aus überquellenden Abfalltonnen herum und dazwischen wuselten selbst jetzt am hellen Tag vereinzelte Ratten, die sich von unserer Ankunft nicht im Mindesten stören ließen. Die Häuser waren heruntergekommen und verfallen. Die wenigen Fenster im Erdgeschoss waren vernagelt oder trotz des hellen Sonnenlichts mit Läden verschlossen. Auf eine der nackten Ziegelsteinmauern hatte ein Kind schon vor Jahren mit Kreide Bob ist dof gekritzelt. Wie bei jedem meiner seltenen Besuch hier juckte es mich in den Fingern, den Satz wenigstens orthographisch zu verbessern.
Der Kutscher hielt an. Ich stieß den Wagenschlag auf, stieg aus und trat gemeinsam mit Howard und Rowlf auf die Pension zu. Der Zustand des Hauses unterschied sich äußerlich kein bisschen vom Rest der Gegend. Lediglich an dem handgemalten, über der Tür angenagelten Schild war zu erkennen, dass es sich um eine Pension handelte, nicht um ein Abbruchhaus.
Der Eindruck, es mit einer heruntergekommenen Absteige zu tun zu haben, änderte sich allerdings schlagartig, nachdem Howard die Tür geöffnet und wir das Innere des Gebäudes betreten hatten. Er hatte das Haus schon gekauft, lange bevor ich ihn kennen gelernt hatte, und ebenso lange handelte es sich bereits um keine Pension mehr. Das Schild war ebenso wie der verwahrloste äußere Zustand des Gebäudes nur eine Tarnung. Schon damals hatte Howard mächtige Feinde besessen, nicht nur die Dienerkreaturen der GROSSEN ALTEN, sondern auch den Orden der Templer. Er hatte sich verstecken müssen, und als Versteck war das WESTMINSTER ideal. Selbst in den Jahren, die er in Andara-House eingezogen war, hatte er es nie aufgegeben und war seit nunmehr gut einem Jahr wieder hier eingezogen. Aus irgendeinem Grund, den ich niemals ganz verstanden hatte, war das Gebäude sogar von den berüchtigten Straßenbanden verschont geblieben, die diese Gegend beherrschten.
Über einen Flur betraten wir den mit kostbaren Möbeln ausgestatteten Salon. Im marmornen Kamin flackerte ein Feuer und verbreitete eine behagliche Wärme im Raum. Eine Wand wurde bis unter die Decke zur Gänze von einem Buchregal eingenommen. Die Regalbretter bogen sich unter dem Gewicht der darauf gestapelten Schwarten, Schriftrollen und Folianten. Schon als ich zum ersten Mal hier gewesen war, hatten sie mich fasziniert. Zum größten Teil handelte es sich um Werke, die sich mit den verschiedensten Formen des Okkultismus, größtenteils freilich mit den GROSSEN ALTEN beschäftigten. Auch mein Vater hatte eine bedeutsame Sammlung solcher Schriften besessen – die wie alles andere dem Brand in Andara-House zum Opfer gefallen war –, aber mit der Howards hatte sie es nie aufnehmen können. Kein Wunder, hatte doch schon mein Vater das meiste, was er über die GROSSEN ALTEN wusste, von ihm erfahren. Das Wissen, das Howard hier zusammengetragen hatte, war ungeheuer. Nebenbei – auch ungeheuer gefährlich.
Eine Tür wurde geöffnet. Mary Winden, meine frühere Haushälterin, die ebenfalls hier eingezogen war, bis sich Andara-House wieder in einem bewohnbaren Zustand befinden würde, kam auf mich zu. Ein freudiges Lächeln lag auf dem Gesicht der ältlichen Frau. »Robert!«, rief sie und umarmte mich; wie üblich so
Weitere Kostenlose Bücher