Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
auch das fulminante Trinkgeld nichts änderte, das ich ihm zusätzlich zu dem vereinbarten Fahrpreis ausgehändigt hatte; in weiser Voraussicht und eingedenk meiner Kenntnis der Psyche von Mietdroschkenfahrern – die übrigens zu allen Zeiten und an allen Punkten der Welt gleich ist – im Voraus.
»Und Sie sind sicher, dass es sich wirklich um die richtige Adresse handelt?«
»Vollkommen«, versicherte ich ihm, während ich aus dem Wagen stieg und mich suchend in beiden Richtungen des Trottoirs umsah. Ich spürte die bohrenden Blicke des Fahrers mit fast körperlicher Intensität, bemühte mich aber nach Kräften sie zu ignorieren. H.P. war noch nicht da und das war einigermaßen seltsam. Neben einigen anderen hervorstechenden Eigenschaften war mein Freund und Mentor Howard Phillips Lovecraft nämlich einer der pünktlichsten Menschen, denen ich jemals begegnet war. Seine fast manische Besessenheit, immer und überall und unter allen nur vorstellbaren Umständen pünktlich zu sein, hatte in der Vergangenheit oft Anlass zu gutmütigen Frotzeleien gegeben. Nun war er nicht da. Und das war wirklich sehr ungewöhnlich.
»Soll ich auf Sie warten, Sir?«, erkundigte sich der Kutscher, mit einer Stimme, die lautlos, aber auch unüberhörbar hinzufügte: Wenn du noch ein kräftiges Trinkgeld drauflegst, du eitler Geck.
»Danke, nicht nötig.« Ich wartete ab, bis der Mann die Peitsche knallen ließ und die Kutsche anruckte, dann wandte ich mich endgültig dem Haus zu.
Genauer gesagt dem, was einmal ein Haus gewesen war.
Seit Andara-House in einer Februarnacht des Jahres achtzehnhundertsiebenundachtzig bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, war Ashton Place Nummer 9 nicht viel mehr als ein gewaltiger, von einem Zaun umgebener Schutthaufen gewesen; nach einhelliger Meinung der Nachbarn überdies ein Schandfleck in dieser Wohngegend, die immerhin zu den vornehmsten und teuersten Londons zählte. So war es kein Wunder, dass man dem Beginn der Aufräum- und Bauarbeiten mit allgemeiner Erleichterung und Freude entgegensah, aber auch einer gehörigen Portion Misstrauen gegen den vermeintlich neuen Besitzer, die zugegebenermaßen aus schlechter Erfahrung geboren war. Schlechter Erfahrung mit dem Vorbesitzer des Anwesens.
Nun, dieser neue Besitzer war ich und ich hatte mir fest vorgenommen, meine neuen (und übrigens auch alten, aber davon würden sie ganz bestimmt nichts erfahren) Nachbarn zumindest in ihrem Misstrauen allem gegenüber, was den Namen Craven trug, gründlich zu enttäuschen.
Schon um mich von meinen Grübeleien abzulenken, hatte ich in den vergangenen Tagen mit einer Goodwill-Tour rings um den Ashton Place begonnen und war bei jeder einzelnen Familie vorstellig geworden, um mich sozusagen prophylaktisch für die Aufregungen und den unvermeidlichen Lärm zu entschuldigen, die beim Wiederaufbau von Andara-House entstehen mussten, und natürlich waren alle viel zu höflich gewesen, ihre Bedenken laut auszusprechen; immerhin waren wir nicht nur in England, sondern noch dazu in London, der Stadt, in der die feine englische Art erfunden worden war und in der selbst die Verbrecher Gentlemen waren. Wenigstens einige.
Trotzdem hatte ich natürlich gespürt, was man tatsächlich von meinen Versprechungen hielt. Ich konnte es den guten Leuten nicht einmal wirklich verübeln. Sie hatten zu viele schlechte Erfahrungen mit dem Mann gemacht, als dessen verschollen geglaubter Zwillingsbruder gleichen Namens ich mich ausgab. Meine ursprüngliche Idee, mich nach meinem Vater Roderick zu nennen, hatte ich wieder verworfen. Der Name Robert war mir einfach zu vertraut; wahrscheinlich würde ich noch über Jahre hinweg unbewusst reagieren, wenn mich jemand so rief, und meine Tarnung damit riskieren.
Ich erinnerte mich gut der diversen Gespräche, die ich mit den guten Leuten geführt hatte. Natürlich waren sie viel zu höflich und viel zu reserviert gewesen, um mir ins Gesicht zu sagen, welche Gefühle allein der Klang des Namens Craven bei ihnen hervorrief, aber ich hätte schon blind und taub sein müssen, um ihre Reaktion nicht zu bemerken: den hörbar kühler werdenden Ton, das Hochziehen der Augenbraue, die plötzlich etwas zu reservierte Höflichkeit, die verstohlenen Blicke, mit denen man mich musterte und in denen man ganz deutlich die Besorgnis las, ob meine unübersehbare Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Zwillingsbruder sich vielleicht nicht nur auf Äußerlichkeiten beschränkte.
Natürlich will ich
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