Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
ist der »rätselhafte Mechanismus des Erinnerns«, der den Erzähler immer wieder abschweifen lässt und bewirkt, dass sich immer neue Erinnerungsabgründe öffnen. Eins führt zum anderen und so, wie wenn man Folien übereinanderlegt und dadurch neue Gesamtbilder schaut, verbinden und durchdringen sich auch die diversen erzählerischen Sphären des Romans. In Paris klebt Fahlmann, dem sein Roman immer mehr entgleitet, eine Folie des Pariser Stadtplans
auf eine Weltkarte. So gerät Fahlmann mitten in Paris an den Nordpol:
»Und nun raus mit der Sprache, Georg«, sagt Strigaljow, ein verstorbener Schriftsteller, den Fahlmann sich einbildet und der im Begleitheft als sein Psychopompos (griechisch für Seelenführer ins Jenseitig-Transzendente) bezeichnet wird. »Wie sieht der Nordpol aus?«
»Auch enttäuschend. Noch enttäuschender als Spitzbergen. Der Nordpol liegt auf einer Verkehrsinsel vor einem mickrigen Eckhaus, das eine schäbige Kneipe mit dem kryptischen Namen La Grille Chez Les Deux Frères beherbergt.«
Die Handlungsstränge wuchern, ufern aus, paaren sich mal mehr, mal weniger fruchtbar: Fahlmanns Leben; sein Buch über den Insektenforscher Bahlow in Afrika; Lebensausschnitte des schwedischen Naturwissenschaftlers Carl von Linné und das Ägyptische Totenbuch; die Anatomie des menschlichen Körpers und die Geschichte von Andromeda, die (der griechischen Mythologie zufolge) an eine Klippe geschmiedet und einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen wurde.
Fahlmann schreibt seinen Afrikaroman, während die Beziehung zu seiner Frau und zu seinem Sohn immer weiter aus den Fugen gerät. Je mehr Fahlmann durch die Geschehnisse um ihn herum verunsichert wird, desto skurriler wird sein schriftstellerisches Epos. Und seine Deutung der Wirklichkeit sowieso. Er verdächtigt seine Frau Susanne, eine Affäre mit ihrem Arbeitskollegen zu haben:
»In Wahrheit hatte Fahlmann keine Lust, rauszufinden, ob Susanne alleine oder in Gesellschaft fernsah. Vielleicht saß sie auch gar nicht vorm Fernseher, sondern lag fluchend auf dem Bett und quälte sich in ihre enge Lederhose. ›Scheiß drauf!‹, sagte Fahlmann, strich die letzten Zeilen und bemühte sich, Soulac-sur-Mer zu vergessen. Schade. Hatte zwar keine unverzichtbare Funktion im Text, war aber eine gute – vergiss Soulac-sur-Mer! Es gibt schwerwiegendere Probleme zu lösen! Abwartend schwebten die Fingerspitzen über der Tastatur. Irgendwie muss ich den Idiotentrupp zurück zum Tendaguru bringen. Aber wie?«
Fahlmann flüchtet sich in flüchtige Liebesabenteuer. Er verguckt sich in eine Bäckereifachverkäuferin und schreibt ihr anonyme
Briefe. Dann beginnt er eine Affäre mit einer Kommilitonin. Doch auch dieser Liaison blüht kein Happy End.
Christopher Eckers »Fahlmann« ist ein Roman über einen am Leben Gescheiterten, der die losen Fäden seiner Existenz nicht zusammenführen kann. Er kommt mit seiner wissenschaftlichen Hausarbeit über die Bedeutung der Namen bei Thomas Mann genauso wenig voran wie mit seinem Roman – Werke, auf die die Welt nicht wirklich wartet. Was aber, mag man sich fragen, weist diesen Roman selbst als phantastischen Roman aus?
Einiges.
Nicht nur marodieren immer wieder Science-Fiction-Sujets durch den Text, Fahlmann gibt auch seine verkaufstechnischen Überlegungen zum Stand der technisch-utopischen Literatur in Zeiten der Serienkiller- und Vampirzwergenmagierhegemonie zum Besten: »Niemand kaufte mir Außerirdische ab. Also musste ich ihr Auftreten so lange wie möglich hinauszögern. Bei Außerirdischen sahen alle rot.« Schließlich lautet sein Credo in Sachen Phantastik: »In meinen Augen ist ein Roman über das alte Rom genauso phantastisch wie ein Roman über eine Superzivilisation von Methanatmern auf dem Bruzzmond Öbel IV.«
Am Ende gibt der Autor auf und lässt seinen Romanhelden im Stich: Als der Käferforscher Bahlow, eine von Fahlmann für seinen Afrika-Roman erfundene Figur, längere Zeit nichts mehr von Autor Fahlmann hört, verlässt er sein Zimmer im Pariser Empire-Hotel. So gleicht die Handlung seines Romans zunehmend einem »morschen Schiff«.
Und die möglichst spät eingeführten Außerirdischen kriegen es auch nicht mehr flott: »›Momentchen, Jungs!‹, widersprach da der Kurzwellenkonverter, und bugeyed Joe sah zum ersten Mal in seiner Laufbahn besorgt aus. ›Ihr vergesst das Siebte naphtische Theorem von Withel Horn, Hirn Settembroni, Hirn Horn, Horn Horn, Cap Horn, Hirncap, Horncap und Hirsch! Beim
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