Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
den Solaris -Filmen – und wird von der Autorin auch anders gelöst: Weil sie unfähig sind, mit der Möglichkeit eines unbegrenzten Glücks umzugehen, löscht man den Raumfahrern die Erinnerung an ihr Scheitern barmherzig aus dem Gedächtnis.
Die Vielfalt und Sprachkraft dieser kleinen Ausschnitte aus dem sehr umfangreichen Werk der argentinischen Schriftstellerin macht Appetit auf mehr – und neugierig auf ihre in der Heimat preisgekrönten Werke wie den Roman »Kalpa imperial«, den Ursula K. Le Guin höchstpersönlich ins Englische übersetzt hat.
Passenderweise kommt auch das Nachwort mit einer kryptischen Überschrift daher (»Blütenloses Flanieren«) und verstärkt den Effekt des Mehr-Lesen-Wollens, etwa wenn die heute dreiundachtzigjährige Autorin ausgerechnet Asimovs »Am Ende der Ewigkeit« als eine der SF-Lektüren bezeichnet, die sie am meisten beeinflusst haben …
Karsten Kruschel
MATTHIAS HIRTH
ANGENEHM. ERZIEHUNGSROMAN EINER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ
Roman · Blumenbar Verlag, München 2007 · 592 Seiten · € 22, –
In der bundesdeutschen Science-Fiction-Diskussion werden gerne zwei im Widerstreit befindliche Ansprüche formuliert. Da sind die Autoren und Kritiker, die die SF an den stilistischen Maßstäben der Mainstream-Literatur ausrichten wollen, und diejenigen, die sie vor allem als Konzept-Literatur betrachten, bei der literarische Qualitätsmerkmale zwar willkommen, aber sekundär sind. Matthias Hirth ist es gelungen, beides auf hohem Niveau in einem Buch zu vereinen. Der bekannte Literaturkritiker (und SF-Kenner) Denis Scheck hatte zumindest beim ersten Lesen den Verdacht, »einen ganz großen Wurf der deutschen Gegenwartsliteratur« vor sich zu haben, wie er in einer Radiosendung äußerte.
Worum geht es? Der Ich-Erzähler, ein 32-jähriger namenloser Schauspieler und Schriftsteller, lernt bei einem Nordafrika-Urlaub den knapp 60-jährigen Jesuiten Joseph Kuklinsky kennen. Dieser ist Mitglied einer Kommission für ein geheimes Technologie-Projekt, das der internationale Konzern AN2N betreibt. Der Name des Projekts lautet KIND, was für »Key Intentional Net Debutant« steht. Kuklinsky beauftragt den Erzähler, verschiedene literarische Texte für KIND zu verfassen, ohne dass dieser im Detail über das Vorhaben informiert wird. Das Buch besteht aus diesen vier Texten und mehreren Zwischenpassagen, in denen der Ich-Erzähler über zwei Jahre hinweg an verschiedenen Orten weiteren Mitarbeitern von AN2N begegnet. Immer tiefer dringt er in die Gedankenwelt des Projekts ein und versucht, mit seinen Geschichten entsprechend zu reagieren.
KIND selbst ist ein streichholzschachtelgroßes Objekt, das in handelsübliche PCs eingebaut werden und eine »Substruktur im Internet« bilden soll. In dem Objekt organisieren sich selbsttätige »Multi-layer-Perceptrons«, neuronale Netze, die in einem weiteren Schritt übers Internet zu einer größeren Einheit verschaltet werden sollen. KIND soll eine »Zwischenstruktur« zwischen der menschlichen Bewusstseinsorganisation und der streng maschinellen
Logik darstellen. Der evolvierenden KI möchte Kuklinsky qualitative Merkmale des menschlichen Verstehens und Wahrnehmens mitgeben, damit sich die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine »harmonieren« kann. Die Auftragsarbeiten des Ich-Erzählers dienen dazu, das künstliche Bewusstsein von KIND formal vorzustrukturieren, wie man ja auch in Gegenwart kleiner Kinder über Erwachsenenthemen redet, die diese noch nicht bewusst verstehen können, allein um potenziell sinnproduzierende Vorgänge anzuregen. Der Jesuit will der KI Sinnangebote machen, da Sinn nur durch die Referenz in einem symbolischen System entsteht. Aber es geht auch um ein inhaltlich-subversives Moment. »Man muss das System«, so Kuklinsky, »von der reinen Funktionalität erlösen, indem man gezielt Brüche implementiert.« Selbstzweifel, psychische »Fehler« seien eine Stärke des menschlichen Bewusstseins, die man auch einer Maschine vermitteln müsse.
Kuklinsky ist neben dem Erzähler das zweite Alter Ego des Autors. Er akzeptiert die sich ausdifferenzierende hochtechnologische Bedingung, die den Menschen immer mehr zu einem »Kuriosum« werden lässt, und interpretiert die Technik als »Folge« der natürlichen Evolution; zugleich bemängelt er die allgemein fehlende »Reife« der Menschen zum angemessenen Umgang mit neuen Technologien. »Wir denken über Roboter und künstliche intelligente Systeme nach, ohne uns nur
Weitere Kostenlose Bücher