Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
Menschheit, die sich genetisch oder sozial der Lebensweise auf unterschiedlichen Planeten angepasst haben: Die Karnesen, Sechszentnerleute von einer eisigen Welt. Die Onisker mit ihrem originellen Familienleben. Die Utragenorier mit ihrer phantastischen Technik. Oder die Goldene Bruderschaft, die man überall im Kosmos findet, wo Geld zu verdienen ist. Das Mosaikartige des Romans ist seine Stärke, genau wie im richtigen Leben bleibt vieles offen. Dabei ist der Autor stilistisch und dramaturgisch fast immer auf der Höhe der jeweiligen Szene oder Person, nur wenige Stellen erscheinen als Zugabe, Beobachtungen, die er auch noch loswerden wollte.
Kruschel baut verfremdete Elemente des irdischen Alltags ein, etwa einen staubtrockenen Hochschulbürokraten. Oder – was gegen Ende, wo die Auseinandersetzungen richtig haarig werden,
für eine witzige Komponente sorgt – ein geschwätziges Raumschiff namens Pilgernder Joker . Seine Entführerin findet das knubbelige lachsrote Ding zuerst niedlich und vermisst fast ein Sahnehäubchen oben drauf. Als es sie dann zuquatscht wie Karl, die fröhliche Büroklammer, wird ihr doch mulmig, denn es übernimmt allmählich das Kommando.
Am Ende hält der Roman, was er verspricht, und bringt alle losen Enden zusammen. Der weltenumspannende Streit wird geradezu optisch opulent beschrieben. Schließlich sind einige Rätsel gelöst, aber längst nicht alle Konflikte. Nichts ist gut auf Galdäa.
Gundula Sell
SERGEJ LUKIANENKO
LABYRINTH DER SPIEGEL (LABIRINT OTRASCHENII)
Roman · Aus dem Russischen von Christine Pöhlmann · Wilhelm Heyne Verlag, München 2010 · 698 Seiten · € 15, –
DER FALSCHE SPIEGEL (FALSCHIWIJE SERKALA)
Roman · Aus dem Russischen von Christine Pöhlmann · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 576 Seiten · € 14,99
In der Spiegel-Dilogie erforscht Sergej Lukianenko auf gewohnt unterhaltsame Art die Tiefen, Untiefen und Möglichkeiten eines außer Rand und Band geratenen Internets – Menschen können sich in virtuelle Welten begeben, dort Abenteuer erleben, sterben und wiederauferstehen, sich verlieben und einander bekriegen … und auch auf Geheimnisse stoßen, die ihnen im realen Leben (dem aus Fleisch und Blut jenseits von Kabeln und Software) gefährlich werden können.
Das Konzept ist alles andere als neu, seitdem Stanisław Lem in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts das Konzept der Phantomatik entwarf und Gibson & Co. in den Achtzigerjahren damit begannen, den Cyberspace und seine Möglichkeiten zu erforschen. Tad Williams hat mit seiner Otherland-Romanserie virtuelle Welten in exzessiver Gründlichkeit beschrieben, und zwar beginnend mit dem ersten Band im Jahr 1996. Lukianenkos
Version des Themas ist in Russland im selben Jahr erschienen – eine seltsame Koinzidenz.
Die Herangehensweise gleicht sich nur im Grundsätzlichen des Spiels mit der Virtualität, in den Details könnte sie unterschiedlicher kaum sein. Während Tad Williams – und im Übrigen auch die anderen Vordenker der VR-Geschichten – von einer heute nicht mal ansatzweise existierenden Technologie ausgehen, die den Menschen tatsächlich in die virtuelle Welt versetzt, sodass er aus rein technischen Gründen nicht mehr unterscheiden kann, ob er sich im realen oder virtuellen Leben befindet, hat der russische Autor einen anderen, zugleich zeitlosen wie nostalgischen Ansatz gefunden.
Und einen eleganten. Er denkt sich keine Hightech-Visionen aus, sondern bleibt einfach bei Modem und Einwahlverfahren, also bei der Ursuppe des Internets, und postuliert ein kleines, psychoaktives Programm namens »Deep«, das den menschlichen Verstand dazu verleitet, aus primitivsten Andeutungen einer virtuellen Welt eine perfekte Virtualität zu konstruieren. Eine Welt, die nur im Kopf des Surfers, nicht aber in Form irgendwelcher Hardware existiert. So können Lukianenkos Figuren in fiktiven Welten agieren, ohne sündhaft teure und/oder ausgeklügelte Hardware besitzen zu müssen. Da er die reale Welt seiner Charaktere genau dort verortet, wo die Bücher entstanden sind, nämlich im von den Nachwehen des untergehenden Sozialismus gebeutelten Russland der frühen Neunzigerjahre, kann er den beständigen Mangel an allem Möglichen gut mit den quietschenden Modems, klapprigen 386ern und FidoNet-Begriffen seines Helden vereinbaren und (wie
nostalgisch das heute anmutet) über die Schwierigkeiten sinnieren, mit Disketten und einer Riesendatei von zwei Megabyte
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