Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
verschlungen hat, wird auch den zweiten mit Gewinn lesen, auch wenn »Der falsche Spiegel« der Tiefe nicht sehr viel Neues hinzufügt und die Themen des Vorgängerbandes in gewisser Weise nur variiert; ohne die Kenntnis des ersten Romans wird man allerdings am zweiten keinen Spaß haben. Leonid lebt hier – im wirklichen Leben – mit Vika zusammen, und ihre Beziehung spielt auch bei der Lösung des Rätsels in der virtuellen Welt eine gewichtige Rolle. Noch wichtiger wird allerdings Leonids eigene Persönlichkeit, denn am Ende steht er kurz davor, gegen sich selbst kämpfen zu müssen. Neben dem allzu klug gewordenen virtuellen Kram ist es am Ende der Mensch Leonid, ganz unverdrahtet und fehlbar, der vor eine moralische Entscheidung gestellt wird …
Bereits in diesen Büchern arbeitet Lukianenko also an den Themenkreisen späterer Romane (das Durchschreiten von Toren, hinter denen andere Welten warten, taucht hier bereits auf), und dem Leser wird, während nun die älteren Texte des Autors auf Deutsch erscheinen, der Werdegang des russischen Autors mehr oder weniger in umgekehrter Reihenfolge präsentiert, rückwärts sozusagen, was immer noch besser ist als gar nicht.
Karsten Kruschel
MIRIAM MECKEL
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Roman · Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 · 316 Seiten · € 19,95
»Wir wissen, wo Sie wohnen, wir wissen, welche Schule Ihr Hund besucht«, heißt es im Prolog zu Charles Stross’ Roman »Du bist tot«, in dem reales und virtuelles Geschehen untrennbar miteinander verknüpft sind. Dank der Jobinformant™-Technologie liegt ein akkurates Persönlichkeitsprofil des Informatikers Nigel vor, und bei Fehlern ist die Agentur bereit, »2000 € dafür (zu) bezahlen, dass Sie uns einen Tag lang dabei helfen aufzuklären, in welcher Hinsicht unsere Datenanalyse versagt hat«. Fiktion – aber längst keine Science Fiction mehr.
Unter der Überschrift »Zugriff auf die Datenbank des Denkens und Fühlens« behandelt Constanze Kurz in der FAZ vom 2. März 2012 die Monetarisierung der Datenbestände von Twitter – die Vermarktung des Archivs ab Januar 2010 durch die britische Firma Datasift. »Das Entscheidende an der Verfügbarkeit der Twitter-Archive ist«, schreibt Kurz, »dass sich nunmehr Algorithmen an historischen Daten testen lassen. Während man zuvor ein Vorhersageprogramm auf der Basis von Twitter-Stimmungen nur anhand aktuell verfügbarer Daten testen konnte, lassen sich nun Korrelationen von Ereignissen und Twitter-Trends retroaktiv prüfen, um die Algorithmen zu optimieren. Es ist wie bei automatischen Trading-Systemen, die in den Archiven nach vergleichbaren Trends und Situationen suchen, um daraus Vorhersagen für das Jetzt abzuleiten: Ihr Nutzen hängt von der digitalen Verfügbarkeit historischer Börsendaten in hoher Auflösung ab … Eine ähnliche Entwicklung ist durch die Vermarktung der Twitter-Daten auch für andere Branchen zu erwarten. Unternehmen und Politiker werden versuchen, ihre PR und Werbung gezielt anhand aufgezeichneter Reaktionen zu optimieren und anzupassen. Bewusste Manipulationen der öffentlichen Meinung werden deutlich vereinfacht, es gibt nun genügend Testmaterial.«
Solche aktuellen Entwicklungen sind Ausgangspunkt von Miriam Meckels Roman – einer Dystopie, in der die Spezies Mensch im fehlerlos lösungsorientiert arbeitenden System der Algorithmen
aufgegangen ist und dabei auch ihre körperliche Existenz eingebüßt, zum größten Teil sogar freiwillig aufgegeben hat. Aus zwei Perspektiven und in zwei Teilen, den »Erinnerungen eines ersten humanoiden Algorithmus« und den »Erinnerungen eines letzten Menschen«, erzählt Meckel die Geschichte dieser Verschmelzung (zur Unterscheidung der Erzählstimmen sind die Kapitelanfänge im Bericht des Algorithmus durch reale Barcodes, in der Erzählung des Menschen durch Morsezeichen gekennzeichnet).
Mit akribischer Recherche und einer Fülle von Zitaten und Fußnoten hat die Kommunikationswissenschaftlerin Meckel, seit 2005 Professorin an der Universität St. Gallen, solche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zusammengetragen und analysiert, die den Weg zum »quantifizierten Selbst« und zur »Mathematisierung der Menschheit« gewiesen haben. Das Spektrum reicht dabei von der Videoüberwachung an Bahnhöfen bis zu den RFID-Chips bei der Fußball-WM 2006, von den Quants bei Börsentransaktionen bis zum Cloud Computing, vom altmodischen »Eliza«-Programm bis zum
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