Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
Verbrechen in einer scheinbar hermetischen, ausweglosen Welt aufgeklärt werden. Godards Hauptdarsteller Eddie Constantine ist hier ebenfalls mit von der Partie, selbst Fassbinders Protagonist Karl Scheydt aus Der amerikanische Soldat (1970) wirkt wie aus Alphaville importiert. Wie Godard ist Fassbinder am ironischen Spiel mit der Archäologie der Filmkultur interessiert, wie Godard braucht er keine Special Effects oder Digitalzirkus. Welt am Draht wäre nicht derselbe Film, würde er beispielsweise Morphing-Effekte einsetzen oder Figuren einführen wie Robert Picardos multifunktionales holografisches Medizinprogramm Doc Zimmerman aus Paramounts angepasstem TV-Irrsinn Star Trek: Voyager (1995–2001), das sich selbst ein- und ausschalten kann. Wer braucht schon elektronischen Supermüll? Auch das Problem einer nachgeäfften Realität ist bei Fassbinder kein technisches: Würde Welt am Draht eindeutig zwischen Manipulation und Täuschung, Bewusstsein und Wirklichkeit unterscheiden, wäre er nicht nur halb so spannend, sondern auch nur halb so wild.
Offensichtlich ist die Welt eine undurchschaubare, komplexere Konstruktion, als wir glauben, rutschen wir von einer vermeintlichen Realität in die nächste. Beherrschende, lähmende Strukturen, von denen sich die Protagonisten täuschen und unterdrücken lassen, die sich aber als überaus robuste, lebensfähige Scheusalwelten herausstellen, haben bei Fassbinder eine lange Tradition, vom Münchner Hinterhof-Syndikat in Liebe ist kälter als der Tod (1969), der feigen
Zusammenrottung einer sich selbst betrügenden Clique gegen wehrlose Feindbilder und Ausländer in Katzelmacher (1969) und Angst essen Seele auf (1973), dem Spießerkommunismus in Mutter Küsters Fahrt zum Himmel (1975), den gespenstigen, unerträglich normalen Zuständen in Warum läuft Herr R. Amok? (1969) und der auf der ganzen Linie versagenden Gesellschaft von Ich will doch nur, daß ihr mich liebt (1976) über sadistische Ersatzvater-Inquisitoren wie Karlheinz Böhm in Martha (1974) und beispiellose Rassisten wie Fassbinder selbst in Angst essen Seele auf , Kurt Raabs Herrenmenschen-Monster in Satansbraten (1976), die tödlichen kleinbürgerlichen Zustände im Händler der vier Jahreszeiten (1970) und in Bolwieser (1977), die luxuriösen, gelackten lesbischen Abhängigkeiten und Selbsttäuschungen in Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1971), die erstickenden Jahrhundertverhältnisse, die erzwungene, tote Ehe in Fontane Effi Briest (1972), die rücksichtslose Ausbeutung ehrlicher Gefühle durch heuchlerische, selbstherrliche Freunde in Faustrecht der Freiheit (1974), das absurde Theater in Die Dritte Generation (1978), das sich betrügende Ehepaar in Chinesisches Roulette (1976), wo nichts ist, was es scheint, den Überwachungsstaat in Deutschland im Herbst (1977) oder das geradezu obszöne Fehlen von Freiheit in der AdenauerÄra von Die Ehe der Maria Braun (1978), Lola (1981) und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1981) bis zur verhassten Selbstzerstörung des Regisseurs in Warnung vor einer heiligen Nutte (1970). Das gierige, anonyme IKZ in Welt am Draht ist nichts anderes als eine weitere derartige versteckte Bevormundung, Täuschung, Verformung und Regulierung. Eine interessantere Parallele als die zur Science Fiction scheint mir die simple Vorstellung zu sein, dass wir in unserem gesamten Denken und Handeln schon von vorneherein vorprogrammiert sind, eingepasst in eine lähmende, unfreie Welt gesellschaftlichen Konsums, die uns launisch macht, angreifbar, benutzbar, aggressiv im Dienste nicht unbedingt selbstgewählter Interessen und Absichten.
Klaus Löwitsch oder Simulacrons jüngster Laborbericht? Oder ist alles geregelt, vorherbestimmt?
Das fortschrittliche, von der Großindustrie in Auftrag gegebene und mit Staatsgeldern finanzierte weitläufige elektronische Superhirn Simulacron-1 ist der ganze Stolz von Dr. Vollmer (Adrian Hoven), Leiter der Forschungsabteilung des Institutes für Kybernetik und Zukunftsforschung IKZ, und das aus gutem Grund: Das Hi-Tech-Monster ist in der Lage, zukünftige Vorgänge in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft genauestens zu simulieren und auf ihre Effektivität und Effizienz, vor allem auf absolute Profitmaximierung hin durchzurechnen. Sein Innenleben hat bereits
Menschen geschaffen, so perfekt, dass sie von echten nicht zu unterscheiden sind, Menschen, die selbst Fleisch werden wollen, selbst in die Welt der Erzeuger aufbrechen wollen.
Als Dr. Vollmer in
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