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Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012

Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012

Titel: Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha u. a. Mamczak
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zu gießen) der Umstand, dass Wirklichkeit immer die rekursive Einheit von Wirklichem und Möglichem darstellt – dass es die Wirklichkeit also nie ohne etwas an ihr gibt, das auch anders sein könnte, von
dem sie sich beispielsweise wegbewegt oder auf das sie zusteuert.
    Die Science Fiction benutzt Metaphern, weil sie vom Wirklichen als der Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit ausgeht, nicht nur, wie oben beschrieben, als etwas, das man wörtlich nehmen muss – die Ebene der Wirklichkeit –, sondern außerdem auch, genau wie der Realismus oder der Naturalismus, als Reservoir uneigentlicher Redefiguren – die Ebene der Möglichkeit.
     
    Heute Morgen las ich eine Erzählung von Lavie Tidhar in der November/Dezember-Nummer 2011 der SF-Zeitschrift Interzone , die gleich im zweiten Satz die Sonne mit einem kranken Auge vergleicht, ohne damit nahelegen zu wollen, dass uns von da oben her wirklich wer beobachtet. Kommt in der SF, also etwa bei Dick, so ein Auge vor, dann muss immer am konkreten Fall geklärt werden, ob dieses Auge »nur« die Sonne ist, oder diese Sonne in Wirklichkeit eine Kamera ist, oder …
     
    Dick selbst hat zwischen 1974 und seinem Tod 1982 nichts anderes getan, als dieses »Klären am konkreten Fall« auf sein ganzes Leben, samt Literatur, auszudehnen, eben weil der konkrete Fall eine Vision war, die sein ganzes Leben, samt Literatur, so sehr erklären hätte können wie umgekehrt dieses Leben, samt Literatur, sie hätte erklären müssen, um für Dick weiterhin vereinbar zu sein mit der zentralen Eigenschaft der Wirklichkeit, die er bis in Nerven und Knochen spürte, nämlich dass sie eben die Einheit des Wirklichen mit dem Möglichen ist.
    Diese Eigenschaft der Wirklichkeit alleine erkennen und operationalisieren zu können, behaupten ja viele der sozialen Subsysteme, von denen Luhmann redet, zum Beispiel
die Kunst (und, in Gestalt einiger Unentwegter wie der Esoteriker oder des Herrn Ratzinger, auch immer noch: die Religion).
    Philip K. Dick hatte dazu, in sarkastischen Stunden, eine böse Meinung – sie steht auf Seite 726 der jüngsten Querschnittsausgabe der »Exegesis«, unter der Datumszeile »May 1981«: »Art, like theology one giant fraud. Downstairs the people are fighting while I look for God in a reference book: God, ontological arguments for. Better yet: practical arguments against. There is no such listing, it would have helped a lot if it had come in time: arguments against being foolish, ontological and empirical, ancient and modern (see common sense).«
     
    Der amerikanische Psychiater Louis A. Sass hat ein paar nicht leicht von der Hand zu weisende Argumente dafür vorgebracht, dass psychotische Erkrankungen, vor allem aber die damit verbundenen Leiden, weniger am Verlust der rationalen Fähigkeiten von Individuen hängen als an der Verselbstständigung dieser Fähigkeiten gegenüber ihren Wahrnehmungsschnittstellen sowie gegenüber den Zwecken und Interessen der Leidenden. In diesem Sinne war der späte Philip K. Dick, wie die »Exegesis« zeigt, gewiss verrückt, weshalb ich ihn oben einen »großen Irren« genannt habe.
    Die Pointe dieser speziellen Diagnose bei diesem speziellen Genie aber ist, dass in demselben Sinn natürlich auch die ganze bürgerliche, neuzeitliche, prosaische, realistische und naturalistische Gesellschaft samt Kunst und Religion komplett verrückt sind (sie leiden ja sogar darunter).
    Das großartige Buch »The Exegesis« ist daher eines der kostbarsten, traurigsten, lustigsten Bücher in der Geschichte des wichtigsten literarischen Versuches, den von Realismus
und Naturalismus behexten Verrückten der neuzeitlichen Weltgesellschaft die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit im Wirklichen, das Vorhandensein des Implex von Anderswo oder Morgen im expliziten Hier und Heute nahezubringen.
    Dieser wichtigste Versuch, zu dem das Buch als ein exterritoriales Seitenergebnis gehört, heißt natürlich Science Fiction.
    Er ist nach den Maßgaben sowohl der Erkenntnis und Erkenntniskritik wie denen der Ontologie und Ontologiekritik aus den in diesem kleinen Aufsatz genannten Gründen jeder Human-, Geistes- oder Sozialwissenschaft überlegen.
     
    Niklas Luhmann war ein Autor, der sich die Welt erklärt hat, und sie damit auch uns als etwas Vernünftiges darstellen konnte.
    Philip K. Dick dagegen war ein Autor, den die Welt noch heute, dreißig Jahre nach seinem Verstummen, zu erklären versucht, und den sie nicht verstehen wird, solange sie

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