Heyne Galaxy 12
dann dachte er daran, daß der Brief ohne Zweifel von dem Unbekannten stammte. Er zuckte die Schultern und betrat den Vorgarten. Der Weg war mit Beton ausgegossen, und das Gras, das ansonsten wild wucherte, war an seinen Rändern sorgfältig gestutzt.
Es war inzwischen dunkel geworden, und das Licht der nächsten Straßenlaterne erreichte die Vordertüre des Bungalows nicht. Vorsichtig näherte er sich dem Haus und tastete mit den Füßen nach der Türschwelle. Aber seltsamerweise schien es keine Stufe zu geben.
Er betastete den Türrahmen, bis er den Klingelknopf gefunden hatte. Wenig später ging über ihm eine Lampe an, und die Tür öffnete sich.
»Ja?« fragte eine Stimme, deren Ton sich bei seinem Anblick sofort seltsam veränderte – auf eine Weise, die er nicht zu deuten vermochte. »Ah, Sie sind Mr. Mervyn Grey, nicht wahr? Kommen Sie bitte herein. Es ist so entsetzlich kalt draußen.«
Grey brachte im ersten Augenblick kein Wort heraus. Er starrte sein Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen an. Es lag nicht in seiner Art, sich überraschen zu lassen, aber dieses … dieses Wesen, das da vor ihm aufgetaucht war, unterschied sich zu sehr von der Vorstellung, mit der er gekommen war.
Der Unbekannte saß in einem elektrisch betriebenen Rollstuhl, dessen Kontrollen sich auf der rechten Armlehne befanden. Der linke Arm des Mannes war zurückgebildet, und die Hand war seltsam verzerrt und stand fast im rechten Winkel vom Unterarm ab. Seine Beine steckten unter einer fleckenübersäten Wolldecke, an seinem Hemd fehlte ein Knopf, und sein zernarbtes Gesicht war von einem ungepflegten blonden Bart überwuchert. Seine Augen waren jedoch hell und wachsam, und unter dem durchdringenden Blick fühlte sich Grey sehr ungemütlich.
»Sind Sie George Handling?« brachte er schließlich heraus.
»Jawohl«, erwiderte der Mann im Rollstuhl.
»Sie sind die Person, die die Wirtschaftsberichte herausgibt…?«
»Ja! Aber kommen Sie doch herein – es wird so schnell kalt im Haus, wenn ich die Tür offen halte, und Heizmaterial ist heutzutage so verdammt teuer.«
Aber ich habe angenommen, daß Sie mit Ihren Wirtschaftsberichten genug verdienen …
Grey unterdrückte diese Worte. Betäubt von der Erkenntnis, daß seine Schlußfolgerungen falsch gewesen waren und er sich von einem Wahnsinnigen hatte hereinlegen lassen, schloß er die Tür hinter sich und blickte sich um. Er befand sich in dem seltsamsten Haus, das er jemals gesehen hatte. Daß es keine Türschwelle gab, ließ sich durch den Rollstuhl erklären, aber jetzt stellte er fest, daß auch das übrige Haus nach dieser Notwendigkeit ausgerichtet war. Die Zwischenwände hatte man herausgeschlagen, so daß sich der gesamte Wohnbereich – mit Ausnahme des Badezimmers im Hintergrund – offen vor ihm ausbreitete. In einer Ecke stand ein Bett, durch einen Vorhang abgetrennt; ein anderer Teil des Raumes wurde von einem Bücherschrank eingenommen. Daneben stand ein Tisch mit einer Schreibmaschine, und in einer Ecke war eine Litho-Druckmaschine von riesigen Papierstapeln umgeben.
Automatisch folgte er Handling durch den Raum zum Schreibtisch, in dessen Nähe ein großer Paraffinofen brannte. Trotzdem war das Haus sehr kalt.
Oder bildete er sich das nur ein?
»Setzen Sie sich bitte«, sagte Handling und ließ den Rollstuhl herumschwingen, wobei er den Ofen nur um Zentimeter verfehlte. Mit geneigtem Kopf blickte er auf einen Stuhl, der mit einem Stapel Papier bedeckt war; darauf stand eine Teetasse. »Es tut mir leid, daß Sie sich selbst Platz schaffen müssen, aber ich kann leider nichts auf dem Boden abstellen, weil es mir sonst im Wege ist und ich mich außerdem nicht bücken kann. Wenn mir wirklich mal etwas hinunterfällt, muß ich immer die Zange benutzen. Nun! Ich sollte Ihnen wohl etwas zu trinken anbieten – aber ich habe leider nichts im Haus. In meinem Zustand macht einem ein Gläschen Alkohol keinen rechten Spaß mehr. Allerdings könnte ich Ihnen eine Tasse Tee machen, wenn Sie Wert darauf legen.«
Grey war es inzwischen gelungen, auf dem Schreibtisch ein Plätzchen für den Stapel Papier und die Tasse freizumachen, wobei er sich Zeit gelassen hatte – in der Hoffnung, zwischen den Papieren des Mannes vielleicht etwas Interessantes zu entdecken – beispielsweise Notizen über den Inhalt des nächsten Wirtschaftsberichtes. Aber da war nichts – nur ein Stapel unbeschriebenes Papier und ein halbes Dutzend handgeschriebener Briefe, die säuberlich
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