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bedeutet, an die Enthüllungen, die während des Prozesses massenhaft zutage getreten wären und deren er uns unwiderruflich beraubt hat, werde ich von Hass überwältigt. Er hat zwar keine unschuldigen Menschen getötet – dafür ist er ein Totengräber der Wahrheit. Und alles nur, um drei Minuten lang im Fernsehen zu sein! Welch stumpfsinnige Warhol’sche Monstrosität! Den Einzigen, denen ein Recht auf moralische Überlegungen über Leben und Tod Bousquets zugestanden hätte, sind seine Opfer, die Überlebenden und Toten, die wegen Menschen wie ihm in die Fänge der Nazis gerieten; doch ich bin sicher, dass sie ihn gern lebend gehabt hätten. Welche Enttäuschung muss es für sie gewesen sein, als sie von diesem absurden Mord erfuhren! Die Gesellschaft, die ein derartiges Gebaren, derartige Geistesgestörte hervorbringt, widert mich an. «Menschen, denen die Wahrheit gleichgültig ist, kann ich nicht leiden», schrieb Pasternak. Noch schlimmer ist das Geschmeiß, dem die Wahrheit nicht nur gleichgültig ist, sondern das auch noch aktiv dagegen vorgeht. All die Geheimnisse, die Bousquet mit ins Grab nahm … Ich darf gar nicht weiter daran denken, es macht mich krank.
Der Prozess gegen Bousquet hätte das französische Äquivalent zu Eichmanns Prozess in Jerusalem werden können.
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Nun gut, Themenwechsel! Ich bin über die Zeugenaussage von Helmut Knochen gestolpert, den Heydrich während seines Frankreichbesuchs zum Beauftragten des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD ernannte. Darin gibt er vor, erstmals eine vertrauliche Aussage zu enthüllen, die Heydrich ihm gegenüber bei der Gelegenheit geäußert haben soll. Die Zeugenaussage machte er … im Juni 2000, achtundfünfzig Jahre später!
Heydrich soll ihm anvertraut haben, der Krieg könne nicht mehr gewonnen werden. Es gelte, einen Kompromissfrieden zu erzielen, und er befürchte, Hitler wolle sich dies nicht eingestehen. Darüber müsse man nachdenken. Diese Überlegungen hätte er also im Mai 1942 angestellt, vor Stalingrad, zu einem Zeitpunkt, als das Reich stärker schien als je zuvor!
Knochen sieht darin die außerordentliche Klarsicht Heydrichs, den er für wesentlich intelligenter hält als alle anderen Nazifunktionäre. Und er versteht es als Beweis, dass Heydrich die Möglichkeit in Betracht zog, Hitler zu stürzen. Von dieser Überlegung ausgehend eröffnet er uns seine brandneue Theorie: Churchill wollte sich einen vollständigen Sieg über Hitler auf keinen Fall entgehen lassen, daher habe die Ermordung Heydrichs für ihn absolute Priorität besessen. Kurz gesagt, die Engländer sollen die Tschechen unterstützt haben, um zu verhindern, dass ein scharfsinniger Nationalsozialist wie Heydrich Hitler beiseitedrängt und das Naziregime mit einem Kompromissfrieden rettet.
Ich habe den Verdacht, dass es Knochens Interessen dient, die Hypothese eines Komplotts gegen Hitler zu untermauern, um seine äußerst reale Rolle im Polizeiapparat des Dritten Reiches zu bagatellisieren. Es ist sogar möglich, dass er nach über sechzig Jahren selbst an das glaubt, was er erzählt. Ich für meinen Teil denke, er erfindet einfach das Blaue vom Himmel. Doch ich halte es trotzdem für erwähnenswert.
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In einem Forum habe ich gelesen, was ein Leser im Brustton der Überzeugung über Jonathan Littells Hauptfigur geschrieben hat: «Max Aue wirkt authentisch, weil er seine Epoche widerspiegelt.» Aber nein! Er wirkt authentisch (zumindest für die Leser, die sich leicht reinlegen lassen), weil er unsere Epoche widerspiegelt: nihilistisch-postmodern, um mich kurz zu fassen. An keiner Stelle wird angedeutet, dass die Figur Anhänger des Nationalsozialismus ist. Ganz im Gegenteil – häufig genug legt Aue eine beunruhigende Gleichgültigkeit gegenüber der nationalsozialistischen Doktrin an den Tag; somit kann man nicht sagen, dass er den unbändigen Fanatismus widerspiegelt, der in seiner Epoche vorherrschte. Dagegen sprechen weiterhin seine generelle Gleichgültigkeit, sein blasiertes Gehabe, seine Abgestumpftheit, sein permanentes Unbehagen, sein Gefallen an philosophischen Überlegungen, seine aufgesetzte Amoralität, sein verdrossener Sadismus und diese entsetzliche sexuelle Frustration, die ihn ohne Unterlass bis ins Innerste aufwühlen … aber natürlich! Warum bin ich nicht früher draufgekommen? Auf einen Schlag sehe ich klar: Die Wohlgesinnten sind nichts anderes als «Houellebecq bei den Nazis».
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Ich glaube, ich beginne zu verstehen:
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