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Ich bin dabei, einen Infra-Roman zu schreiben.
206
Der Augenblick naht, ich kann es spüren. Der Mercedes ist auf der Straße. Er kommt näher. In Prag liegt etwas in der Luft, das mich bis ins Mark durchdringt. Die Windungen der Straße bestimmen das Schicksal eines Mannes und das eines anderen und eines anderen und noch eines anderen. Ich sehe, wie Tauben von Jan Hus’ Bronzeschädel abheben und im Hintergrund das schönste Bühnenbild der Welt, die Tyn-Kathedrale mit ihren spitzen Türmen. Beim Anblick ihrer prächtigen, düsteren, unheilvollen Fassade könnte ich jedes Mal vor Ehrfurcht in die Knie sinken. Prags Herz schlägt in meiner Brust. Ich höre das Klingeln der Straßenbahnen. Ich sehe Männer in grau-grüner Uniform und vernehme das martialische Knallen ihrer Stiefel auf dem Pflaster. Ich bin fast da. Ich muss dorthin. Ich muss mich nach Prag begeben. Ich muss da sein, wenn es passiert.
Ich muss es dort schreiben.
Ich höre das Motorengeräusch des schwarzen Mercedes, der sich die Straße entlangschlängelt. Ich höre Gabčiks Atem, der im Regenmantel auf dem Gehsteig wartet. Gegenüber sehe ich Kubiš und oben auf dem Hügel Valčík. Ich spüre die kalte Vorderseite des Spiegels in seiner Jackentasche. Noch nicht, noch nicht, už nie , noch nicht.
Noch nicht.
Ich spüre den Wind, der die Gesichter der zwei Deutschen im Wagen peitscht. Der Fahrer fährt ausgesprochen schnell, das weiß ich sicher, ich verfüge über Tausende Zeugenberichte, die das bestätigen: Was diesen Punkt angeht, bin ich nicht unsicher. In voller Fahrt rast der Mercedes dahin, während der Teil meines Vorstellungsvermögens, den ich am meisten schätze, still und heimlich in seinem Windschatten folgt. Der Wind pfeift, der Motor brummt, der Passagier ruft seinem Chauffeur, einem sehr großen Mann, immer wieder zu: «Schneller! Schneller!» Er bemerkt nicht, dass sich die Zeit bereits verlangsamt. Schon bald wird das Weltgeschehen in einer Kurve erstarren. Im selben Moment, wie der Mercedes, wird die Welt stehenbleiben.
Doch noch ist es nicht so weit. Ich weiß, dass es noch zu früh ist. Es ist noch nicht alles am richtigen Ort. Es wurde noch nicht alles gesagt. Zweifellos würde ich diesen Augenblick am liebsten bis in alle Ewigkeit hinauszögern, obwohl jede Faser meines Seins darauf hinfiebert.
Der Slowake, der Mähre und der Tscheche aus Böhmen befinden sich ebenfalls in Wartestellung, und ich gäbe einiges dafür, fühlen zu können, was sie damals fühlten. Doch die Literatur hat mich zu sehr verdorben. «Ich spüre Bedrohliches in mir aufsteigen», sagt Hamlet. Selbst in einem solchen Moment kommt mir ein Satz von Shakespeare in den Sinn. Man möge mir verzeihen. Meine Helden mögen mir verzeihen. Ich tue das alles nur für sie. Es galt, den Mercedes in Bewegung zu bringen, was nicht einfach war. Alles bereitzustellen, sich um die Vorbereitungen zu kümmern, zumindest den Hintergrund zu malen, vor dem sich dieses Abenteuer abspielen wird, den Galgen des Widerstands zu errichten, der hässlichen Dampfwalze des Todes ein prächtiges Gewand des Heldenmutes überzuwerfen. Das alles ist natürlich noch gar nichts. Es galt, allem Schamgefühl zum Trotz, eine Verbindung zwischen mir und diesen großen Männern herzustellen, ohne dass sie meine insektenartige Existenz beim Blick zu Boden bemerken.
Es galt zuweilen auch, zu mogeln und mich von dem loszusagen, woran ich glaube, da meine Literaturgläubigkeit angesichts dessen, was sich jetzt abspielen wird, keinerlei Bedeutung besitzt. Angesichts der Ereignisse, die sich in wenigen Minuten abspielen werden. Hier. Jetzt. In dieser Kurve in Prag, in der Klein-Holeschowitz-Straße, wo später, viel später, eine Art Umgehungsstraße erbaut werden wird, weil sich die Konturen einer Stadt leider schneller verändern als das kollektive Gedächtnis der Menschen.
Doch im Grunde ist das kaum von Bedeutung. Das Einzige, was von jetzt an noch wichtig ist, ist der schwarze Mercedes, der sich schlangenartig die Straße entlangwindet. Noch nie habe ich mich meiner Geschichte so nah gefühlt.
Prag.
Ich spüre, wie Metall gegen Leder reibt. Ich spüre die Aufregung, von der die drei Männer ergriffen werden, und ihre gespielte Gelassenheit. Dabei handelt es sich nicht um die männliche Sicherheit derer, die wissen, dass sie sterben werden, denn auch, wenn sie dazu bereit sind, haben sie die Möglichkeit, mit dem Leben davonzukommen, niemals ausgeschlossen, wodurch ihre psychische
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