HHhH
Gäste. Herrschaftlich und mit heiterem Gesichtsausdruck schreitet er hocherhobenen Hauptes über einen roten Teppich, dessen Rand er teilweise übertritt, auf seinen Platz in der ersten Reihe zu. An seiner Seite Ehefrau Lina, schwanger und strahlend, in ein dunkles Kleid gehüllt. Alle Blicke richten sich auf das Paar, und die uniformierten Männer in der Zuhörerschaft erheben den Arm zum Hitlergruß, als die beiden an ihnen vorbeigehen. Heydrich ist von der Erhabenheit des Schauplatzes ergriffen, das kann ich an seinen Augen ablesen, stolz betrachtet er den Altar, der von prachtvollen Flachreliefs überragt wird und vor dem die Musiker in Kürze ihre Plätze einnehmen werden.
Die Musik, so wird ihm heute Abend wieder klar, sofern er es überhaupt vergessen hatte, ist fester Bestandteil seines Lebens: Sie hat ihn seit seiner Geburt begleitet und niemals verlassen. Stets führte er einen inneren Kampf zwischen dem Künstler und dem Kämpfer in ihm. Der Lauf der Welt war es, der über seine Karriere entschied. Doch die Musik wird ihm immer innewohnen, ihn bis zu seinem Tod begleiten.
Jeder Gast hält das Abendprogramm in der Hand, in dem die schlechte Prosa des stellvertretenden Reichsprotektors zu lesen ist; getarnt als Einleitung, die zu verfassen er sich nicht verkneifen konnte. Sinngemäß schreibt er:
Die Musik ist die kreative Sprache der Künstler und Musikfreunde, das Ausdrucksmittel ihres Innenlebens. In schwierigen Zeiten spendet sie dem Zuhörer Trost, und in Zeiten von Kampf und Heldentum verleiht sie ihm Mut. Doch die Musik ist zuvorderst das stärkste Ausdrucksmittel der kulturellen Produktion des deutschen Volkes. In diesem Sinne ist die Prager Musikwoche ein Beitrag zur Erhabenheit unserer Gegenwart und bildet damit für die kommenden Jahre das Fundament eines reichen musikalischen Lebens in dieser Region im Herzen des Reiches.
Heydrich schreibt nicht so gut, wie er Geige spielt, doch das schert ihn nicht, schließlich ist die Musik die wahre Sprache der Künstlerseelen.
Das Programm ist außerordentlich. Er hat die größten Musiker anreisen lassen, um deutsche Musik zu spielen. Beethoven, Händel, sicherlich auch Mozart; um Wagner kommt man an diesem Abend ausnahmsweise einmal herum (wobei ich nicht sicher bin, weil ich mir nicht das vollständige Programm besorgen konnte). Doch erst, als die ersten Töne des Klavierkonzerts in d-Moll seines Vaters Bruno Heydrich erklingen – aufgeführt von alten Musiklehrern aus dessen Konservatorium in Halle, unter Begleitung eines gefeierten virtuosen Pianisten, der extra zu diesem Anlass angereist ist –, wird Heydrich wohl diesen krönenden Moment erleben und die Musik wie eine wohlige Welle durch sich hindurchströmen lassen. Zu gern hätte ich dieses Konzert gehört. Als Heydrich zum Schluss applaudiert, erkenne ich auf seinem Gesicht den schwelgerisch stolzen Blick größenwahnsinniger Egozentriker. Heydrich kostet seinen persönlichen Triumph über den posthumen Erfolg seines Vaters aus. Doch Triumph und Apotheose sind nicht unbedingt dasselbe.
210
Gabčik ist wieder zu Hause. Weder er noch Kubiš rauchen in der Wohnung, um die mutige Familie Ogoun, bei der sie wohnen, nicht zu belästigen, und auch, damit die Nachbarn keinen Verdacht schöpfen.
Durch das Fenster sieht man die Burg, die sich gegen den nächtlichen Himmel abzeichnet. Versonnen betrachtet Kubiš das imposante Bauwerk und denkt laut: «Ich frage mich, was dort morgen um diese Zeit los sein wird …» Frau Ogounová fragt: «Was sollte denn los sein?» Schnell wirft Gabčik ein: «Nichts, gar nichts.»
211
Am Morgen des 27. Mai machen sich Gabčik und Kubiš früher als gewöhnlich zum Aufbruch bereit. Der jüngere Sohn ihrer Herbergsfamilie Ogoun geht zum letzten Mal seine Unterlagen durch, denn heute ist Abiturprüfung. Er ist sehr nervös. Kubiš redet ihm gut zu: «Ruhig Blut, Luboš, du schaffst das, du musst das schaffen. Und heute Abend feiern wir alle zusammen deinen Erfolg …»
212
Wie es seiner Gewohnheit entspricht, hat Heydrich beim Frühstück die aktuellen Zeitungen gelesen, die ihm jeden Tag frühmorgens aus Prag zugestellt werden. Um neun Uhr ist sein schwarzer oder dunkelgrüner Mercedes eingetroffen, am Steuer sein Chauffeur, ein SS-Hüne namens Klein, der beinahe zwei Meter misst. Doch an diesem Morgen lässt Heydrich ihn warten. Er hat mit seinen Kindern gespielt (ich versuche, mir diese Szene vorzustellen: Heydrich, der mit seinen Kindern spielt) und
Weitere Kostenlose Bücher