HHhH
Bürgersteig am oberen Ende der Straße Bredovska, von den Tschechen auch «Straße der Gefangenen» genannt, die zum Hauptbahnhof führt, dem ehemaligen Bahnhof Wilsonovo. An der Ecke gegenüber thront das Peček-Palais, ein imposantes Bauwerk aus grauem Stein, finster und furchteinflößend. Ein tschechischer Bankier, dem beinahe alle Kohlenminen Nordböhmens gehörten, ließ das Gebäude nach dem Ersten Weltkrieg errichten. Womöglich erinnerte ihn die anthrazitfarbene Fassade an die Ursprünge seines aus Kohle gewonnenen Vermögens. Doch der Bankier überschrieb seine Minen und das Palais der Regierung und verschwand vorsichtshalber nach England, kurz bevor sein Land von der deutschen Invasion heimgesucht wurde. Auch heute noch ist das Peček-Palais Sitz eines offiziellen Amtes: des Industrie- und Handelsministeriums. 1942 jedoch fungiert das Gebäude als Hauptquartier der Gestapo von Böhmen und Mähren. Knapp eintausend Angestellte gehen dort ihren düsteren Beschäftigungen nach. Auf den Fluren ist es dermaßen finster, dass man sich am helllichten Tage mitten in der Nacht glaubt. Das Gebäude im Herzen der Hauptstadt verfügt über eine ultramoderne Ausstattung – eine Druckerei, ein Labor, ein Rohrpostsystem und eine Telefonzentrale – und ist somit bestens als Sitz der nationalsozialistischen Polizei geeignet. Die zahlreichen Untergeschosse und Gewölbe wurden, wie es sich gehört, zweckmäßig eingerichtet. Die Leitung des Hauses obliegt Dr. Geschke, einem jungen Standartenführer. Beim bloßen Anblick seines Fotos gefriert mir das Blut in den Adern: Schmiss im Gesicht, teigige Haut, irrer Blick, grausame Lippen, Seitenscheitel und zur Hälfte rasierter Schädel. Kurz und gut: Das Peček-Palais ist das Sinnbild des nationalsozialistischen Terrors in Prag, und es bedarf einer gewissen Unerschrockenheit, sich dem Gebäude auch nur zu nähern. Karel Čurda ist durchaus unerschrocken, schließlich locken ihn zwanzig Millionen Kronen. Man braucht schon Mut, um seine Kameraden zu verraten. Und man sollte das Für und Wider sorgsam abwägen. Niemand garantiert ihm, dass die Nazis ihr Wort halten werden. Er bereitet sich innerlich darauf vor, alles aufs Spiel zu setzen: Reichtum oder Tod. Čurda ist eben ein Abenteurer. Aus purer Abenteuerlust hatte er sich den tschechoslowakischen Exilstreitkräften überhaupt erst angeschlossen. Und seine Abenteuerlust trieb ihn dazu, sich freiwillig für Spezialeinsätze im Protektorat zu melden. Doch hat ihn die Rückkehr in sein Land letztendlich enttäuscht; das Leben im Untergrund ist nicht besonders verlockend. Seit dem Attentat wohnt er bei seiner Mutter in der Kleinstadt Kolín, sechzig Kilometer östlich von Prag. Zuvor hatte er aber Gelegenheit, einen Großteil der Personen kennenzulernen, die sich im Widerstand engagierten, darunter Kubiš und Valčík, mit denen er den Angriff auf die Škoda-Fabrik in Pilsen durchführte, sowie Gabčik und Opálka, denen er während der geheimen Lagerwechsel in Prag mehrmals über den Weg lief. Er kennt unter anderem die Wohnung der Familie Svatoš, die ein Fahrrad und eine Aktentasche für das Attentat zur Verfügung stellte. Und vor allem kennt er die Adresse der Familie Moravec. Ich weiß nicht, warum er vor drei Tagen bei ihnen vorbeischaute. Hatte er bereits die Absicht, sie alle zu verraten? Oder wollte er wieder Kontakt zum Widerstandsnetz aufnehmen, von dem er nichts Neues gehört hatte? Doch warum sollte er nach Prag zurückgekehrt sein, wenn nicht wegen der Belohnung? War er bei seiner Mutter in der malerischen Kleinstadt Kolín nicht sicherer? Ehrlich gesagt war er das nicht. Kolín ist 1942 eine deutsche Verwaltungszentrale; in der Stadt werden die Juden Zentralböhmens zusammengetrieben, und der Bahnhof dient als Umschlagplatz für Deportationen nach Terezín. Daher besteht die Möglichkeit, dass Čurda seine Familie nicht länger gefährden wollte – neben seiner Mutter wohnte auch seine Schwester in Kolín – und nach Prag zurückkehrte, um bei seinen Kameraden einen Unterschlupf und Unterstützung zu finden. Von welcher Bedeutung ist also die Tatsache, dass ihm niemand öffnete, als er bei Familie Moravec an die Tür klopfte? Tante Moravec schien ihn andererseits erwartet zu haben, denn als der Hausmeister ihr von einem mysteriösen Besucher erzählte, fragte sie ihn, ob er aus Kolín gewesen sei. Doch sie war eben nicht zu Hause … Wir werden niemals erfahren, ob der weitere Verlauf der Ereignisse das
Weitere Kostenlose Bücher