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einzeln vor ihrer Hinrichtung zu identifizieren, stirbt in der letzten Gruppe. Ihm ist es zu verdanken, dass die Deutschen neun Männer verschonen, die nicht aus dem Dorf stammen. Sie waren nur bei Freunden zu Besuch und sind wegen der Sperrstunde nicht mehr nach Hause gekommen, oder sie waren bei ihrer Familie eingeladen und sind dort über Nacht geblieben. Doch man wird sie später in Prag exekutieren. Als neunzehn Arbeiter von der Nachtschicht heimkehren, müssen sie feststellen, dass ihr Dorf verwüstet wurde, ihre Familien verschwunden sind, und sie entdecken die noch warmen Leichname ihrer Freunde. Und da die Deutschen noch vor Ort sind, werden auch diese Männer auf der Stelle erschossen. Selbst die Hunde werden ermordet.
Doch damit ist es nicht vorbei. Hitler hat beschlossen, dass Lidice als kathartisches und symbolisches Ventil zum Abreagieren seiner Rachsucht dienen wird. Die Frustration über die Unfähigkeit des Reiches, Heydrichs Attentäter zu finden und zu bestrafen, löst eine ungebremste und maßlose Hysterie bei ihm aus. Entsprechend lautet sein Befehl, das gesamte Dorf Lidice buchstäblich dem Erdboden gleichzumachen. Also entweiht man den Friedhof, reißt die Obstgärten nieder, steckt alle Gebäude in Brand und bestreut die Erde mit Salz, damit nie wieder etwas darauf wachsen kann. Vom Dorf ist nur noch ein glühendes Inferno übrig. Bulldozer sind bereits unterwegs, um die Ruinen einzuebnen. Nicht die leiseste Spur darf übrig bleiben, nicht einmal mehr der ehemalige Standort des Dorfes soll noch zu erkennen sein.
Hitler will demonstrieren, dass das Reich herauszufordern jeden teuer zu stehen kommt, und er statuiert ein Exempel an Lidice. Doch damit begeht er einen schweren Fehler. Hitler und alle anderen Mitglieder der Nazimaschinerie haben bereits seit langem den Sinn für jedes Maß verloren und keinerlei realistische Vorstellung davon, welchen Aufschrei die Berichterstattung über die Zerstörung Lidices in der Welt hervorrufen wird. Bislang verschleierten die Nazis ihre Verbrechen zwar nur halbherzig, hielten aber trotzdem eine Fassade der Diskretion aufrecht, die es manchen Außenstehenden nach Wunsch ermöglichte, die Augen vor dem wahren Gesicht des Regimes zu verschließen. Mit Lidice wird Nazideutschland vor der ganzen Welt demaskiert. In den darauffolgenden Tagen beginnt Hitler zu verstehen. Dieses Mal sind es nicht die SS-Männer, die entfesselt werden, sondern eine Macht, deren Schlagkraft er zweifellos unterschätzt hat: die Meinung der Weltöffentlichkeit. Die sowjetischen Zeitungen verkünden, dass man von nun an im Namen von Lidice kämpfen werde. Und damit liegen sie richtig. In England rufen Minenarbeiter aus Birmingham ein Komitee für den zukünftigen Wiederaufbau des Dorfes ins Leben und erfinden einen Slogan, der um die Welt gehen wird: Lidice Must Live! In den USA, Mexiko, Kuba, Venezuela, Uruguay und Brasilien werden Plätze, Viertel, ganze Dörfer auf den Namen «Lidice» getauft. Ägypten und Indien erklären sich öffentlich solidarisch. Schriftsteller, Komponisten, Filmschaffende und Dramaturgen ehren Lidice in ihren Werken. Zeitungen, Radios und Fernsehsender berichten. In Washington erklärt der Sekretär der Navy: «Wenn uns die zukünftigen Generationen fragen, warum wir in diesem Krieg gekämpft haben, werden wir ihnen die Geschichte Lidices erzählen.» Auf die Bomben, die die Alliierten über deutschen Städten abwerfen, wurde zuvor der Name des Märtyrerdorfes im Osten aufgepinselt. Die sowjetischen Soldaten tun das Gleiche mit den Geschütztürmen ihrer T34. Indem sich Hitler wie der vulgäre Psychopath verhält, der er ist, und nicht wie der Staatschef, der er ebenfalls ist, erlebt er mit Lidice seine größte Niederlage – und das auf einem Gebiet, auf dem er sich als Meister wähnte: Am Ende des Monats hat er den Propagandakrieg auf internationaler Ebene unwiderruflich verloren.
Doch am 10. Juni 1942 ist sich weder er noch irgendjemand sonst dessen bewusst, am allerwenigsten Gabčik und Kubiš. Die Nachricht von der Zerstörung des Dorfes löst bei den beiden Fallschirmspringern tiefe Bestürzung und Hoffnungslosigkeit aus. Mehr als je zuvor werden sie von Schuldgefühlen geplagt. Es nützt ihnen wenig, sich zu sagen, dass sie ihre Mission erfüllt haben, die Bestie tot ist und sie Tschechien und den Rest der Welt von einer der unheilvollsten Kreaturen befreit haben; sie haben das Gefühl, die Einwohner Lidices mit eigenen Händen getötet zu haben.
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