Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
HHhH

HHhH

Titel: HHhH Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Binet Laurent
Vom Netzwerk:
gerufen. Ich glaube nicht, dass es viele sind, aber ich weiß, dass sich auch Slowaken unter ihnen befinden. Ihr Stützpunkt ist in Krakau. Wenn ich mich ihnen anschließen würde, gälte ich als Deserteur, und ich kann meine Frau und meine Kinder nicht zurücklassen. Aber wenn ich in deinem Alter wäre, wenn ich ungebunden wäre … Tiso ist ein Halunke. Und das denke nicht nur ich, sondern die meisten anderen Jungs auch. Wir sind nicht alle zu Nazis geworden, weißt du. Aber wir haben eben Schiss. In Prag scheinen wirklich fürchterliche Dinge zu passieren, jeder, der sich nur im Geringsten widersetzt, wird umgebracht. Ich werde versuchen, mich mit der Situation zu arrangieren, ohne mehr als nötig mitzumachen, aber ich werde mich bedeckt halten. Solange man nicht von uns verlangt, Juden zu deportieren …»
    Gabčik lächelt ihm zu. Er streift sich den Mantel über, bedankt sich bei seinem Kumpan und verlässt das Café. Draußen ist es Nacht geworden, die Straßen sind menschenleer, und unter seinen Schritten knirscht der Schnee.

90
    Zurück in Žilina, steht Gabčiks Entscheidung fest. Am Ende seines Arbeitstages in der Fabrik verabschiedet er sich von seinen Kameraden, als sei alles wie immer, schlägt aber die übliche Einladung in die Eckkneipe aus. Er macht einen kurzen Abstecher bei sich zu Hause und nimmt anstatt eines Koffers einen kleinen Stoffbeutel von dort mit, zieht zwei Mäntel übereinander an, dazu seine robustesten Stiefel, seine Armeestiefel. Er verlässt die Wohnung und schließt die Tür ab. Er schaut bei seiner Schwester vorbei, der er am nächsten steht und die zu den wenigen Menschen gehört, die über sein Vorhaben im Bilde sind. Er übergibt ihr seine Wohnungsschlüssel. Sie bietet ihm einen Tee an, den er schweigsam trinkt. Er erhebt sich. Er drückt seine Schwester fest an sich und vergießt ein paar Tränen. Dann begibt er sich zum Busbahnhof. Dort wartet er auf einen Bus, der ihn nach Norden zur Grenze bringen wird. Er qualmt ein paar Zigaretten. Er ist vollkommen ruhig. Er ist nicht der Einzige am Bussteig, doch niemand beachtet ihn, trotz seines Aufzugs: Für Mai ist er zu warm angezogen. Der Bus kommt. Gabčik steigt ein und lässt sich auf einem Sitz nieder. Die Türen schließen sich. Ächzend fährt der Bus an. Durchs Fenster beobachtet Gabčik, wie Žilina sich langsam entfernt. Er wird die Stadt nie wieder sehen. Die romanisch-barocke Silhouette des historischen Stadtzentrums zeichnet sich vor dem dunklen Horizont ab. Als Gabčik einen letzten Blick auf das Schloss Budatín wirft, das sich am Zusammenfluss zweier der drei Flüsse befindet, die die Stadt durchziehen, weiß er nicht, dass das Schloss in den folgenden Jahren beinahe vollständig zerstört wird. Und er weiß nicht, dass er die Slowakei für immer verlässt.

91
    Diese Szene ist absolut glaubwürdig und vollständig erfunden, wie die vorherige auch. Was für eine Unverschämtheit, einen Mann, der seit langer Zeit verstorben ist und der sich nicht mehr wehren kann, wie eine Marionette zu behandeln! Ihn Tee trinken zu lassen, obwohl er vielleicht nur Kaffee mochte. Ihn zwei Mäntel anziehen zu lassen, obwohl er vielleicht nur einen einzigen besaß. Ihn den Bus nehmen zu lassen, obwohl er genauso gut den Zug hätte nehmen können. Zu beschließen, dass er an einem Abend aufbrach und nicht an einem Morgen. Ich bin beschämt.
    Ganz so schlimm jedoch ist es nicht. Und Kubiš habe ich eine derart aus der Luft gegriffene Behandlung erspart, zweifellos deshalb, weil ich seine Heimat Mähren nicht so gut kenne wie die Slowakei. Kubiš brach erst im Juni 1939 nach Polen auf, von wo er nach Frankreich gelangte – wie, weiß ich nicht. Jedenfalls schloss er sich dort der Fremdenlegion an. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich weiß nicht, ob er in Krakau haltmachte – Krakau bildete die erste Anlaufstelle für tschechische Soldaten, die sich weigerten, die Kapitulation zu akzeptieren. Ich nehme an, dass er im südfranzösischen Agde der Fremdenlegion beitrat, genauer gesagt dem ersten Infanteriebataillon der tschechoslowakischen Exilstreitkräfte. Vielleicht war aus dem Bataillon, dessen Truppen von Tag zu Tag Verstärkung bekamen, bereits ein ganzes Regiment geworden. Einige Monate später wird daraus eine ganze Division entstanden sein, die während des ungeheuerlichen Kriegs an der Seite der französischen Armee kämpfen wird. Ich könnte ausschweifende Anmerkungen über die Integration der tschechischen

Weitere Kostenlose Bücher