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die der Tschechoslowakei zuvor von ihren Feinden und deren Alliierten im Namen des Friedens, der Gerechtigkeit, des gesunden Menschenverstands und anderer edler Vorwände abgerungen worden waren, die seit der Krise von 1938 immer wieder bemüht wurden. Nun sei das tschechoslowakische Territorium besetzt. Doch die Republik sei noch nicht tot. Sie müsse den Kampf weiterführen, und sei es von außerhalb der eigenen Landesgrenzen. Beneš, den die tschechoslowakischen Patrioten als einzigen legitimen Präsidenten anerkennen, möchte so schnell wie möglich eine provisorische Exilregierung bilden. Ein Jahr vor de Gaulles und Churchills Kampfesreden vom 18. Juni lässt Beneš schon ein wenig von der gleichen Attitüde erkennen. In ihm regt sich der Geist des Widerstands.
Unglücklicherweise hält aber noch nicht Churchill die Zügel des englischen Schicksals, des weltweiten Schicksals, in der Hand, sondern der niederträchtige Chamberlain, dessen Willenlosigkeit an Blindheit grenzt. Er hat einen Beauftragten für Auslandsangelegenheiten von äußerst niedrigem Rang dazu abkommandiert, den ehemaligen Präsidenten in Empfang zu nehmen. Besagter Bürohengst gibt sich von Anfang an unfreundlich. Beneš ist kaum dem Zug entstiegen, als er ihm auch schon die offiziellen Bedingungen für seinen Aufenthalt im Exil diktiert. Großbritannien gewährt ihm als tschechischem Staatsbürger nur unter der ausdrücklichen Bedingung politisches Asyl, dass er sich von jeglicher politischen Aktivität fernhält. Beneš gilt unter Freunden wie Feinden bereits als führender Kopf einer Befreiungsbewegung und quittiert die Beleidigung auf gewohnt würdevolle Weise. Sicherlich setzt ihm Chamberlains dümmlich-verächtliches Gehabe mehr zu als jedem anderen, und er erträgt es mit geradezu übermenschlichem stoischem Gleichmut. In diesem Punkt beeindruckt er mich als historische Person beinahe noch mehr als de Gaulle.
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Vor vierzehn Tagen traf SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks inkognito in der kleinen Stadt Gleiwitz in Oberschlesien an der deutsch-polnischen Grenze ein. Er hat seinen Auftrag minuziös vorbereitet, jetzt bleibt ihm nur noch, abzuwarten. Am Tag zuvor rief Heydrich ihn mittags an und beauftragte ihn, sich mit «Gestapo-Müller» über ein letztes Detail abzustimmen.
Müller begab sich persönlich vor Ort und bezog in der Nachbarstadt Oppeln Quartier. Er soll Heydrich mit einer «Konserve» beliefern. Um vier Uhr morgens klingelt das Telefon in Naujocks’ Hotelzimmer. Er hebt ab und bekommt die Anweisung, in der Wilhelmstraße anzurufen. Am anderen Ende der Leitung krächzt Heydrich ihm entgegen: «Großmutter gestorben.» Das ist das Stichwort, das Unternehmen Tannenberg kann beginnen. Naujocks trommelt seine Männer zusammen und begibt sich mit ihnen zum Rundfunksender, den er zu überfallen gedenkt. Doch bevor er zur Tat schreiten kann, muss er jedem Teilnehmer eine polnische Uniform aushändigen und die «Konserve» in Empfang nehmen: einen Gefangenen, der extra aus einem Konzentrationslager herbeigeschafft wurde. Er ist ebenfalls wie ein polnischer Soldat gekleidet. Er scheint bewusstlos zu sein, aber noch zu leben, obwohl ihm Müller weisungsgemäß eine Giftspritze versetzt hat.
Der Überfall beginnt um zwanzig Uhr. Mühelos wird das Senderpersonal überwältigt. Zur Warnung schießt man ein paarmal in die Luft. Die «Konserve» wird quer vor die Tür gelegt. Höchstwahrscheinlich hat Naujocks selbst dem Gefangenen mit einem Schuss ins Herz endgültig den Garaus gemacht – auch wenn er das während seines Prozesses niemals zugeben wird –, um einen konkreten Beweis für einen polnischen Angriff zu hinterlassen (ein Genickschuss hätte zu sehr nach Exekution ausgesehen, ein Kopfschuss die Identifikation vermutlich verzögert). Jetzt gilt es, die von Heydrich vorbereitete Botschaft in polnischer Sprache auszustrahlen. Ein SS-Mann war aufgrund seiner Sprachkenntnisse dazu auserkoren worden, die Nachricht zu verlesen. Dummerweise weiß niemand, wie die Mikrophonanlage zu bedienen ist. Naujocks wird ein wenig panisch, doch schließlich gelingt es ihnen, die Anlage in Gang zu setzen. In brüchigem Polnisch wird die Botschaft vorgelesen. In der kurzgefassten Ansprache heißt es, Polen habe sich aufgrund der deutschen Provokationen zum Angriff entschlossen. Die Sendung dauert nur vier Minuten. Der Sendebereich ist kaum der Rede wert; außer in einigen Ortschaften an der Grenze wird die Botschaft nirgendwo empfangen. Wen
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