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Exilstreitkräfte in der französischen Armee machen, über ihre elftausend Soldaten, die sich aus dreitausend Freiwilligen und achttausend zum Dienst einberufenen tschechischen Emigranten zusammensetzte. Und ich könnte von tapferen Piloten berichten, die ihre Ausbildung in Chartres erhielten und mehr als hundertdreißig feindliche Flugzeuge während der Schlacht um Frankreich abschossen oder zumindest dazu beitrugen … Andererseits hatte ich gesagt, dass ich kein Geschichtsbuch schreiben will. Diese Geschichte wird zu meiner persönlichen Angelegenheit. Deshalb vermischt sich meine Vorstellung manchmal mit den tatsächlichen Fakten. Es ist, wie es ist.
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Wobei: So ist es auch wieder nicht, das wäre zu einfach. Eines der Bücher, die die Basis meiner Recherchen bilden, las ich nun zum zweiten Mal – eine Sammlung von Zeugenberichten, die in erster Linie von dem tschechischen Historiker Miroslav Ivanov zusammengetragen worden waren und unter dem Titel Das Attentat auf Heydrich erschienen sind. Entsetzt stelle ich fest, welche Fehler mir in Bezug auf Gabčik unterlaufen sind.
Košice gehörte bereits seit November 1938 nicht mehr zur Tschechoslowakei, sondern zu Ungarn, und die Stadt wurde von der Armee Admiral Horthys belagert. Es ist daher äußerst unwahrscheinlich, dass Gabčik seine Kameraden des 14. Regiments besuchte. Und während er bei mir die Slowakei am 1. Mai 1939 verlässt und sich auf den Weg nach Polen macht, war er eigentlich schon knapp zwei Jahre zuvor in eine Fabrik bei Trenčín versetzt worden und lebte dementsprechend wahrscheinlich nicht mehr in Žilina. Die Passage, in der ich erzähle, wie er einen letzten Blick auf die Türme des Schlosses seiner Geburtsstadt wirft, erscheint mir mit einem Schlag lächerlich. In Wirklichkeit hatte er die Armee nie verlassen und arbeitete als Unteroffizier in der Fabrik, die Chemieprodukte zu militärischen Zwecken herstellte. Dafür habe ich versäumt zu erwähnen, dass Gabčik seine Arbeit dort mit einem Sabotageakt beendete: Er mengte dem Senfgas Säure bei und fügte der deutschen Armee damit offenbar großen Schaden zu (wie genau, weiß ich nicht). Was für peinliche Fehler! Erst unterschlage ich Gabčiks ersten Widerstandsakt, der zwar klein war, aber trotzdem von Mut zeugte. Dann lasse ich ein Glied der umfassenden Handlungskette menschlicher Schicksale einfach aus: Gabčik selbst erklärte in einer in England verfassten Kurzbiographie, mit der er sich um Spezialeinsätze bewarb, dass er die Slowakei aufgrund seines Sabotageakts verlassen habe, der unumgänglich zu seiner Festnahme geführt hätte, wenn er im Land geblieben wäre.
Immerhin machte er tatsächlich einen Abstecher nach Krakau, so wie ich es mir gedacht hatte. Nachdem er während des deutschen Angriffs, der den Zweiten Weltkrieg auslöste, auf der Seite der Polen mitgekämpft hatte, flüchtete er möglicherweise zunächst in den Balkan. Viele Tschechen und Slowaken gelangten nämlich nach Frankreich, indem sie über Rumänien, Griechenland, Istanbul und Ägypten schließlich Marseille erreichten. Vielleicht ist er auch direkt über die Ostsee geflohen, was praktischer wäre, weil man von der polnischen Hafenstadt Gdynia ein Schiff nach Boulogne-sur-Mer nehmen und von dort aus in den Süden reisen kann. Wie dem auch sei, ich bin sicher, allein diese Reise wäre ein Heldenepos wert. Den Höhepunkt meiner Erzählung würde die Begegnung mit Kubiš bilden. Wo und wann haben sie sich kennengelernt? In Polen? In Frankreich? Auf einer Reise zu zweit? Später in England? Ich werde es nie erfahren. Ich weiß auch noch nicht, ob ich ihre Begegnung «visualisieren» (sprich: erfinden!) werde oder nicht. Sollte ich das tun, wäre es der unumstößliche Beweis dafür, dass die Fiktion vor nichts und niemandem Respekt hat.
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Ein Zug fährt in den Bahnhof ein. In der großen Bahnhofshalle der Victoria Station wartet Oberst Moravec in Begleitung einiger anderer exilierter Landsmänner auf dem Bahnsteig. Ein kleiner bärtiger Mann mit ernstem Gesichtsausdruck und Stirnglatze entsteigt dem Zug. Es ist Beneš, der am Tag nach dem Münchner Abkommen abtrat. Doch heute, am 18. Juli 1939, dem Tag seiner Ankunft in London, ist er in erster Linie der Mann, der am Tag nach dem 15. März verkündete, dass die tschechoslowakische Erste Republik noch existiere, trotz der Angriffe, denen sie zum Opfer gefallen war. Er sagte, die deutschen Divisionen hätten sich über die Konzessionen hinweggesetzt,
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