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Gemächer in der Burg. Der Führer begibt sich in die obere Etage. Es gibt ein berühmtes Foto, auf dem sich Hitler mit den Händen auf dem Sims eines geöffneten Fensters abstützt und mit zufriedenem Gesichtsausdruck auf die Stadt hinunterblickt. Danach begibt er sich wieder in die untere Etage, wo er sich in einem der Esszimmer sein Abendessen bei Kerzenschein servieren lässt. Heydrich bemerkt, dass der Führer, der für gewöhnlich keinen Alkohol trinkt und sich vegetarisch ernährt, eine Scheibe Schinken isst und dazu ein Pilsner Urquell trinkt, das bekannteste tschechische Bier. Ein ums andere Mal wiederholt Hitler, dass die Tschechoslowakei aufgehört hat zu existieren. Zweifellos möchte er die historische Bedeutung dieses 15. März 1939 hervorheben, indem er ausnahmsweise von seinen Essgewohnheiten abweicht.
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Am nächsten Tag, dem 16. März 1939, gibt Hitler folgenden Erlass heraus:
«Ein Jahrtausend lang gehörten zum Lebensraum des deutschen Volkes die böhmisch-mährischen Länder. Der tschechoslowakische Staat hat seine innere Lebensunfähigkeit erwiesen und ist deshalb nunmehr auch der tatsächlichen Auflösung verfallen. Das Deutsche Reich kann in diesen Gebieten keine andauernden Störungen dulden. Es entspricht daher dem Gebot der Selbsterhaltung, wenn das Deutsche Reich entschlossen ist, zur Wiederherstellung der Grundlagen einer vernünftigen mitteleuropäischen Ordnung entscheidend einzugreifen und die sich daraus ergebenden Anordnungen zu treffen. Denn es hat in seiner tausendjährigen geschichtlichen Vergangenheit bereits erwiesen, dass es dank sowohl der Größe als auch der Eigenschaften des deutschen Volkes allein berufen ist, diese Aufgabe zu lösen.»
Dann verlässt Hitler Prag am frühen Nachmittag und kehrt nie wieder dorthin zurück. Heydrich begleitet ihn. Doch er wird wiederkommen.
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«Ein Jahrtausend lang gehörten zum Lebensraum des deutschen Volkes die böhmisch-mährischen Länder.»
Es ist richtig, dass im zehnten Jahrhundert, also tausend Jahre zuvor, Václav I., der berühmte heilige Wenzel, gegenüber dem nicht minder berühmten Heinrich I. einen Treueeid geleistet hatte. Das geschah zu einer Zeit, als Böhmen noch kein Königreich und der Sachsenkönig noch nicht das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches war. Trotzdem gelang es Václav, seine Souveränität zu behalten, und erst drei Jahrhunderte später ließen sich deutsche Siedler scharenweise – aber friedlich – in Böhmen nieder. Böhmen hatte im Reich schon immer einen erstrangigen Status. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war der König von Böhmen einer der sieben Kurfürsten, die den Kaiser ernennen durften, unter ihnen besaß er den Ehrentitel «Mundschenk». Es begab sich, dass ein König von Böhmen sogar Kaiser wurde, der äußerst illustre Karl IV., väterlicherseits luxemburgisch, doch mütterlicherseits ein Přemyslid. Er besaß also zur Hälfte tschechisches, zur Hälfte deutsches Blut und erkor Prag zu seiner Hauptstadt. Dort gründete er die erste deutsche Universität und ersetzte die alte Judithbrücke durch die schönste Brücke der Welt, eine Steinbrücke, die noch heute seinen Namen trägt.
Kurz und gut, es ist richtig, dass Tschechien und Deutschland von jeher eng miteinander verbunden waren. Es ist ebenfalls richtig, dass Böhmen beinahe ohne Unterbrechung unter deutschem Einfluss stand. Doch es erscheint mir völlig falsch, in Bezug auf Böhmen von deutschem Lebensraum zu sprechen.
Vorgenannter Heinrich I. war eine nationalsozialistische Ikone, Himmlers Idol. Von ihm stammt das politische Schlagwort Drang nach Osten , auf das sich Hitler beruft, um sein Bestreben, die Sowjetunion zu besetzen, zu rechtfertigen. Doch Heinrich war nie darauf aus, in Böhmen einzumarschieren oder es zu kolonialisieren. Er gab sich damit zufrieden, einen jährlichen Tribut zu verlangen. Auch in der Folge gab es übrigens meines Wissens niemals eine gewaltsame deutsche Einwanderung in Böhmen und Mähren. Der Ansturm deutscher Siedler im 19. Jahrhundert war eine Folge der Suche des tschechischen Herrschers nach qualifizierten Arbeitskräften. Bis dahin hatte nie jemand darüber nachgedacht, die tschechischen Einwohner aus Böhmen und Mähren zu vertreiben. Man kann also sagen, dass die Nazis, in Bezug auf ihre politischen Projekte, einmal mehr Neuerungen einführen werden. Und natürlich ist Heydrich mit von der Partie.
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Woran erkennt man, dass es sich bei einer Figur um die Hauptperson einer
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