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Hier hat s mir schon immer gefallen

Titel: Hier hat s mir schon immer gefallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx Melanie Walz
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etwa dreißig Zentimeter langen Vertiefung, die in der Mitte fünf Zentimeter tief sein mochte. Die Vertiefung konnte sie mit ausgestreckter Hand gerade erreichen.
    Die Sonne rückte den Himmel hinunter und veränderte die Schatten der Berge. Ein neugieriges Murmeltier kletterte auf den Felsen neben ihr und starrte sie an, flitzte dann unter dem Felsen hindurch und kam aus einer anderen Richtung zurück. Johnson, der Meisenhäher, durchquerte ihr Blickfeld so oft, dass er wie ein niedrig geworfener Baseball wirkte. Es gab nichts zu sehen außer Johnson, dem Murmeltier, den Flecken schwarzer Flechten und den Adlern am Himmel. Und es gab nur einen Gedanken. Doch als die Sonne sich neigte, kam ein zweiter hinzu: der an Dunkelheit und Kälte.
    Der Felsen verlor seine Wärme langsam, aber unerbittlich. Die Sonne stürzte unter den Horizont, und auf der Stelle floss ein Strom kühler Luft von den Schneegipfeln herab. Zuerst fühlte die Kälte sich wie Balsam auf ihrer verbrannten Haut an, doch keine Stunde später fröstelte sie. Sie wusste, was auf sie zukam, und auch ihr Körper wusste es und schien sich dagegen zu wappnen. Weit weg hörte sie das Dröhnen eines kleinen Flugzeugmotors. Fieberhaft überlegte sie, wie sie am nächsten Tag ein Flugzeug auf sich aufmerksam machen könnte. In ihrem Rucksack war ein Brennspiegel. Hätte sie doch nur ihre Uhr mitgenommen; hätte sie doch nur das Handy mitgenommen. Wäre sie doch nur nicht allein. Hätten sie und Marc doch nur nicht gestritten. Würde er doch nur kommen. Jetzt gleich. Sie dachte sich, dass seine näher kommenden Schritte, die sie sich tagsüber eingebildet hatte, Geräusche gewesen sein mussten, die ein Fuchs gemacht hatte, als er ihren Rucksack plünderte. Die Nacht schleppte sich dahin, und Catlin dämmerte immer wieder ein, diesmal für längere Zeiten, Minuten statt Sekunden, aus der Taille über die schiefe Platte der Felsoberfläche vorgebeugt in der Haltung, die Baumwollpflückern und Landarbeitern den Rücken ruiniert. Das Bein war abwechselnd taub oder pochte.
    Der Morgen war schmerzvoll vertraut. Ihr war zumute, als wäre sie seit ihrer Kindheit hier gefangen. Alles, was vor dem Felsen gewesen war, wirkte unwirklich. Sie war eine Maus in der Mausefalle. Alles war wie zuvor, der aufklarende Himmel, die Sehnsucht nach der Sonnenwärme. Ihre Zunge füllte den ganzen Mund aus, ihre Finger waren steif. Den Meisenhäher Johnson, der einen halben Meter von ihr entfernt auf dem Ende des Felsblocks stand, verwechselte sie mit einem Wolf. Die stumpfen Gipfel am oberen Saum der Landschaft sahen Meereswellen täuschend ähnlich, und Catlin sah zu, wie sie wogten und rollten. Die Oberfläche des Felsens, der sie festhielt, war feinkörnig, glänzend und von nadelfeinen Flechten überzogen. Der Himmel bog sich über dem Felsen. Gestank stieg auf.Von ihrem Bein oder von ihren uringetränkten Jeans? Wieder blickten ihre austrocknenden Augen zu den Meereswellen und von dort hinunter zu dem Felsen, zu Johnson, der sich nun als Ärmel ihres grauen Chenillebademantels ausgab, zu der Felsoberfläche, zu ihren verkrampften Händen und zurück zu den nackten Abhängen voller Geröll. Dass das Sterben so öde sein konnte, hatte sie nicht gewusst. Ab und zu schlief sie ein, und sie träumte von der Mausefalle aus Granit, die ein unbekannter Steinmetz so umsichtig errichtet hatte. Sie träumte, ihr Vater hätte sich neben ihr auf einen Stuhl gesetzt. Er sagte, ihr Bein würde verkümmern und abfallen, aber sie könnte aus einer kleinen Fichte am Weg eine prima Krücke machen und den Weg zurückhinken. Sie träumte, ein seltener Schmetterling ließe sich auf dem Felsen nieder, und ein Entomologe, der aussah wie Marc, wollte ihn fangen, hob den Stein wie schwerelos von ihrem Bein und zeigte ihr den Rollstuhl eigens für Bergwanderungen, den er mitgebracht hatte, um sie zurückzufahren.
    Als sie abrupt wieder zu Bewusstsein kam, kauerte der Himmel über dem Felsen, die Berghänge und Schneewehen weit oben dräuten und sackten herunter und wogten im gleichen Rhythmus wie die nackten Gesteinsbrocken. Sogar die Zeit wand und verzerrte sich. Der Meisenhäher Johnson machte dumpfe, dröhnende Geräusche, wie sie kein Vogel jemals hervorgebracht hatte. Er war eine Trommel, ein leeres Ölfass, auf das eine Botschaft getrommelt wurde, er war eine Talkingdrum. Fast verstand sie die Botschaft. Die Sonne schien aufund niederzugehen wie ein Jo-Jo, marterte ihre Augen mit schmerzendem Licht

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