Hier hat s mir schon immer gefallen
festzustellen, worum es sich handelte; vielleicht stammten die Zeichen von Jim Bridger, John C. Frémont, Jedediah Smith oder einer anderen bedeutenden historischen Persönlichkeit. Dass Marc nicht dabei war, bereitete ihr nun einen bitteren Schmerz wie ein Dorn unter dem Fingernagel. Marc hätte angesichts des herrlichen Wanderwegs und des jungfräulichen Sees vor Freude gejauchzt, und er wäre unverzüglich zu der Inschrift auf dem Felsen hinaufgeklettert.
Das unterste Drittel der Klippe umgab ein Schutthaufen heruntergefallenen Gesteins, von dem knotigen Gespinst grauer Flechten überzogen. Darauf folgten fünfzehn Meter erkletterbaren grauen Granits, der abrupt in eine fast senkrechte glatte Felswand überging, aus der schroffe Gesteinsblöcke herausragten. Catlin war entschlossen, sich weit genug hinaufzuarbeiten, um die Inschrift entziffern zu können, denn sie war überzeugt, dass es sich um verwitterte Buchstaben handelte.
Der Aufstieg war mühsamer als erwartet. Das Geröll verrutschte dauernd unter ihren Füßen, doch so nahe am Boden war das nicht weiter schlimm. Darüber gab es einen schmalen Pfad, kaum breit genug für ihren Fuß, den Regengüsse gebahnt hatten und Schneewasser, das einem Gewirr zerbrochener Felsen weiter oben entsprang. Sie kletterte den engen Pfad bis zum untersten Felsblock hinauf und hangelte sich um ihn herum, ohne nach unten zu sehen. Nun war sie nahe genug, um die Buchstaben in schwarzer Schrift zu lesen: »José 1931«. Also kein berühmter Forscher, sondern nur irgendein mexikanischer Schafhirte. Was für ein Reinfall.
Der Abstieg war überraschend umständlich. Kleine Felsbrocken rollten und glitten unter ihren Füßen davon. An einer Stelle musste sie einen schartigen Abhang hinunterrutschen, wobei ihre Unterhose sich unangenehm in ihrem Schritt verfing. Sie wollte so bald wie möglich ihr Lager aufschlagen. An diesem Abend würde sie den halben Liter Rum öffnen und vielleicht mit dem Preiselbeersaft mischen, den sie seit Tagen mitschleppte. Sie freute sich auf die durstlöschende Säure des Safts.
Als sie fast unten war, sprang sie einen halben Meter hinunter auf den obersten Stein in dem Mikadogewirr. Der Stein drehte sich wie auf einem Kugellager. Ihr Fuß rutschte in den Spalt zwischen dem Stein und dem benachbarten Felsbrocken, und sobald ihr Gewicht verlagert war, bewegte der schwere Stein sich zurück und klemmte ihr Bein ein. Sie versuchte, sich zu befreien, ignorierte die Schmerzen und hielt ihre Situation für ein Augenblicksproblem. Doch als sie weder den Stein verrücken noch ihr Bein befreien konnte, begriff sie, dass sie in der Falle saß.
Weil sie so wütend war, dauerte es eine Weile - mehrere Minuten -, bis ihr klar wurde, in welcher Situation sie steckte. Als sie hinaufgeklettert war, hatte dieser Stein sich leicht bewegt und dabei ein steinernes Knarren vernehmen lassen, als räusperte er sich. Sie hatte ihn nicht weiter beachtet, weil er sich keinen halben Meter vom Boden entfernt befand. Sie hatte nicht aufgepasst. Wäre Marc bei ihr gewesen, hätte er sicher gesagt: »Mit diesem Stein ist nicht zu spaßen.« Wäre Marc bei ihr gewesen, hätte er den Stein wegschieben oder anheben können, so dass sie ihr Bein befreien konnte. Wäre er bei ihr gewesen. Oder irgendjemand. Sie wusste, wie dumm es war, allein eine Bergtour zu unternehmen. Sie hatte es nur getan, weil es das war, was Marc getan hätte. In gewisser Weise war er also bei ihr.
Immer wieder versuchte sie, das schnell anschwellende Bein zwischen den Steinen herauszuziehen. Der Felsen drückte gegen ihre Wade und ihr Knie. Knöchel und Fuß konnte sie ein wenig bewegen. Das war der einzige schwache Trost. Als Kind hatte sie gelernt, dass diejenigen überlebten, die nicht aufgaben, und dass diejenigen, die resignierten, umkamen. Aber manchmal kamen auch die um, die nicht aufgaben. Sie erwog ihre Aussichten. Wenn Marc zum Trailer zurückging, würde er die vergessene Karte auf dem Küchentisch finden. Er würde sehen, dass ihre Campingsachen fehlten. Er würde wissen, dass sie auf dem Jade Trail war, und er würde kommen. Es sei denn, sagte ihre unfrohe innere Stimme, es sei denn, er war in Griechenland, um Brände zu löschen. Und wenn er in Griechenland war, würde dann jemand von der Forstaufsicht merken, dass ihr Jeep seit Tagen im Wald stand? Würde jemand ihren Zettel auf dem Fahrersitz finden, der seit sechs Tagen dort lag, und nach ihr suchen? Sie konnte nur hoffen, sich entweder selbst
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