Hier hat s mir schon immer gefallen
zu befreien, von Marc gefunden zu werden oder von der Forstaufsicht gerettet zu werden. Es gab noch eine weitere, allerdings wenig wahrscheinliche Möglichkeit: dass ein anderer Wanderer oder ein Fischer den aufgegebenen Wanderweg entlangkam. Mittlerweile war sie entsetzlich durstig. Ihr Rucksack lag dort, wo sie ihn abgeschüttelt hatte; sehen konnte sie ihn nicht, denn sie konnte sich nicht umdrehen. In dem Rucksack waren Preiselbeersaft, Essen, Propangaskocher, Streichhölzer, Brennspiegel - alles. In ohnmächtigem Ingrimm riss und zerrte sie an dem Stein, der sich nicht von der Stelle rührte.
Als die Dämmerung tiefer wurde, weinte sie vor Zorn und haderte mit dem kleinen Fehltritt, der sie das Leben kosten konnte. Die Zunge klebte an ihrem trockenen Gaumen. Zuletzt fiel sie, an den kühlen Felsen gelehnt, in einen Dämmerschlaf, aus dem sie immer wieder aufschrak. Ihr festgeklemmtes Bein war taub. Der Durst und die kalte Bergluft saugten sie aus wie Blutegel. Ihr Hals schmerzte, und sie zog die Schultern zusammen. Sie fröstelte, schlang die Arme um den Oberkörper, doch das Frösteln nahm zu, bis Kälteschauer sie unerbittlich schüttelten. Denkbare Szenarien gingen ihr durch den Kopf. Konnte die Kälte das gefangene Bein genug abschwellen lassen, dass sie es zwischen den Steinen hervorziehen konnte? Sie zog zum fünfzigsten Mal an dem Bein und spürte, wie die Kante des gewaltigen Felsbrockens auf ihrer Kniescheibe lastete. Konnte sie genug Kraft aufbringen, um das Bein herauszuziehen, selbst wenn der Stein ihr ins Fleisch schnitt oder die Kniescheibe zermalmte? Sie versuchte es, bis der Schmerz nicht mehr zu ertragen war. Die Anstrengung linderte für ein paar Minuten die Kälteschauer, doch schon bald verkrampften ihre Muskeln sich wieder schmerzhaft. Sie betete, dass es bald Tag werden würde, erinnerte sich daran, wie heiß es jeden Tag gewesen war. Sie dachte sich, wenn sie nur warm würde, könnte sie wieder Kraft schöpfen, und wenn sieWasser hätte, könnte sie ganz sicher ihr Bein befreien, nachdem sie getrunken hatte. Wenn sie Wasser hätte, könnte sie es über ihr Bein gießen, und die Nässe würde vielleicht ermöglichen, es zu befreien. Als sie bei dieser Überlegung angelangt war, fiel ihr ein, dass Urin ihr Wärme und dem gefangenen Bein Feuchtigkeit verschaffen konnte. Doch die Wärme war flüchtig, und die Feuchtigkeit interessierte den Felsblock nicht, der sich von einem unbelebten Gegenstand in eine böswillige Persönlichkeit verwandelt hatte.
Zwischen den Kälteschauern fiel sie kurz in Sekundenschlaf. Doch schließlich verblassten die Sterne, und der Himmel nahm die Farbe von Holzapfelgelee an.
»Komm schon, komm schon«, drängte sie die Sonne, die unvorstellbar langsam aufging. Dann traf endlich Sonnenlicht auf die Bergkette im Westen, doch Catlin stand noch immer im kalten Schatten. Eine Stunde verging. Sie konnte Vögel zwitschern hören. Einer hockte auf der Kante des böswilligen Felsens gerade außerhalb ihrer Reichweite. Könnte sie ihn fassen, würde sie ihm den Kopf abbeißen und sein Blut trinken. Langsam wurde die Luft wärmer, obwohl die Sonnenstrahlen noch nicht herdrangen. Das Bein fühlte sich an wie eine große pochende Säule. Endlich berührte die geliebte Sonne ihren Körper, und das Zittern begann sich zu legen. Die herrliche Wärme war entspannend, und Catlin nickte für lange Minuten ein. Doch jedes Mal, wenn sie aufschrak, war der Durst eine Qual, die jede Pore ihres Körpers entzündete, ihr die Kehle abschnürte. Sie spürte, wie ihre dicke Zunge weiter schwoll.
Die herrliche, wohltuende Sonnenwärme wurde zu Hitze, die ihre nackten Arme, ihren Hals und ihr Gesicht verbrannte. Weit oben schrien die Adler. Inzwischen waren das Brennen ihrer Haut und der übermächtige Durst schlimmer als die Schmerzen des verletzten Beins. Ihre Augen brannten und juckten, und sie musste blinzeln, um die fernen Baumwipfel zu erkennen, die in der Hitze waberten. Gegen Sonnenuntergang waren die nackten Berggipfel zu Haufen heiß glühender Metallspäne geworden. Im Verlauf des Tages hatte sie sich wiederholt eingebildet, Marcs Schritte zu hören, und hatte nach ihm gerufen. Ein Fuchs, der etwas im Maul hielt, lief zu der Schneewehe hinauf.
Sie beschäftigte sich abermals mit dem Gegenstand, der sie gefangen hielt. Es war ein unregelmäßig geformter Granitblock von knapp einem Meter Breite und einem guten halben Meter Höhe; die Oberfläche war eine schiefe Platte mit einer
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